Die Vipern von Montesecco
einer krumme Wege geht im Dunkeln.
Sophokles: Antigone, Verse 493– 494
Seit dem frühen Vormittag hatte Matteo Vannoni auf der Schwelle seines Hauses gesessen. Er hatte eine Zigarette nach der anderen geraucht und die Piazza beobachtet. Antonietta war mit ihren Kindern aufgebrochen, lange bevor der Trubel losging. Es hatte so ausgesehen, als wollten sie in die Stadt, aber natürlich hatte Vannoni nicht fragen können, wie lange sie ausbleiben würden. Ohne Risiko ging sowieso nichts.
Daß Assunta mit dabei war, als ganz Montesecco hinter den Carabinieri zur Piazzetta hinaufzog, war Vannoni nicht entgangen. Im Haus der Lucarellis befand sich also niemand mehr. Vannoni drückte die Zigarette aus und stieg die Stufen hinab. Auf der Piazza sprach Ivan Garzone auf den Fahrer des Leichenwagens ein, der mit müden Augen hinterm Steuer saß. Vannoni schlenderte ein paar Meter neben ihnen vorbei.
Die beiden nahmen ihn überhaupt nicht wahr. Geschweige denn würden sie bemerken, daß er vor dem Ausgang der Piazza plötzlich verschwunden wäre. Als habe eine offene Haustür ihn eingesogen. Es war wie damals, als er am hellichten Tag in das Parteibüro der Christdemokraten marschiert war, sich die Schreibmaschine unter den Arm geklemmt hatte und grußlos wieder hinausspaziert war. Kein Mensch hatte auch nur aufgesehen. Es kam darauf an, so zu tun, als gehöre man dazu. Vannoni war das nie schwergefallen. Vielleicht, weil er sich nie wirklich irgendwo zugehörig gefühlt hatte.
Er sah sich nicht einmal um, als er die Tür der Lucarellis aufzog. Er stand in der Sala vor dem Tisch, der viel zu groß wirkte. Vannonis Blick wanderte über die Küchenzeile,über die Vitrine mit dem Geschirr. Er hatte sich nicht überlegt, wo er suchen sollte. Er wußte auch nicht, was er eigentlich suchte. Irgendeinen Beweis. Einen Liebesbrief Catias? Irgendeine verfluchte Trophäe, die sich Giorgio zur Erinnerung an eine unvergeßliche Nacht mit Vannonis minderjähriger Tochter aufbewahrt hatte?
Vannoni stand in der Sala und wußte, daß er nur verlieren konnte. Selbst wenn er gar nichts fand, würde das seinen Verdacht nicht ausräumen. Vielleicht hatte es nie ein Beweisstück gegeben. Und wenn doch, hatte Giorgio es vielleicht außer Haus versteckt, damit Antonietta es nicht zu Gesicht bekommen konnte.
Es war eine idiotische Idee gewesen, hier einzudringen. Vannoni sollte besser mit Catia reden, wieder und wieder, so lange, bis ... Gleich würde er zu ihr gehen, und hier würde er nichts anrühren, keinen Schrank verrücken, keine Matratze anheben, keine einzige Schublade aufziehen. Er war schon so gut wie weg, würde nur noch schnell durchs Haus schnuppern. Wenn er nun mal da war. Eine Minute, länger nicht.
Er ging durch die Zimmer. Er rührte nichts an, bis er im Schlafzimmer stand, vor dem Doppelbett im schmiedeeisernen Rahmen. An der weiß getünchten Wand hing der Farbdruck einer Schutzmantelmadonna. Der Kleiderschrank war ein Ungetüm aus schwarz lackierter Eiche. Auf der Spiegelkommode links stand eine Schale mit verschiedenfarbigen Muscheln. Und daneben ein Holzkästchen, das mit einem Vorhängeschloß gesichert war.
Das Kästchen gehörte nicht hierher. Vannoni sah das sofort, und er wußte im selben Augenblick, daß Antonietta es irgendwo gefunden und hier abgestellt hatte. Daß sie es seit Tagen umschlich und nicht den Mut fand, es aufzubrechen, weil sie ahnte, daß sich darin das finden würde, was Giorgio vor ihr verborgen hatte, und weil ihre Neugier, diese Geheimnisse zu ergründen, mit derAngst vor den Abgründen rang, die sich dabei auftun mochten.
Vannoni kannte Antonietta nur sehr flüchtig. Sie stammte aus Pergola und hatte dort dieselbe Schule wie er besucht, aber einige Klassen unter ihm. Als sie Giorgio Lucarelli geheiratet hatte, saß er schon längst ein. In Vannonis Leben hatte Antonietta nie eine Rolle gespielt, und doch fühlte er sich ihr jetzt näher als fast allen anderen in Montesecco. Einen Moment lang stellte er sich vor, das Kästchen gemeinsam mit ihr aufzubrechen, Giorgios Sünden in Augenschein zu nehmen und sich dabei schweigend gegenseitig in Schach zu halten.
Die Oberfläche des Sperrholzkästchens war leicht angerauht und fühlte sich warm an. Das Schloß war Kinderkram. Wahrscheinlich hätte Vannoni es mit der Hand herausreißen können, doch er benutzte sein Feuerzeug, um es aufzustemmen. Er klappte den Deckel nach hinten. Ganz oben lag in einem gefalteten Löschblatt die gepreßte Blüte
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