Die Vipern von Montesecco
Anschlag brachte. Hinter der Kapelle tauchte keuchend und hustend der alte Sgreccia auf. Seinen Stock führte er mit der linken Hand. Das Gewehr hing über der rechten Schulter.
»Wir kommen jetzt heraus. Macht keinen Unsinn!« tönte die Stimme des Brigadiere durch den Fliegenvorhang. Dann kamen sie, einer nach dem anderen, und bemühten sich, jede hastige Bewegung zu vermeiden. Der Brigadiere musterte die vier Gewehrläufe, die auf ihn gerichtet waren, und die faltigen, von Wind und Sonne gegerbten Gesichter darüber. Es waren die Gesichter alter Männer. Sie hatten zusammen ein Vierteljahrtausend an Jahren hinter sich gebracht. Die Mienen waren hart und ausdruckslos.
Der Brigadiere zeigte auf den umgestürzten Polizeiwagen und sagte: »Ihr stellt ihn wieder auf, wir packen die beiden Leichen ein, und Schwamm drüber.«
»Welche beiden Leichen?« fragte der alte Sgreccia.
»Da sind keine Leichen«, sagte Paolo Garzone.
»Da ist nur eine leere, defekte Eistruhe«, sagte Franco Marcantoni.
»Wollt ihr etwa vier Polizisten erschießen?« Der Brigadiere lachte höhnisch auf.
Franco Marcantoni schüttelte den Kopf. »Nur in die Beine. Die paar Kilometer nach Pergola könnt ihr dann kriechen.«
»Wie alt bist du, Opa? Willst du im Gefängnis sterben?« fragte der Brigadiere.
In der Kirche sang Assunta nun mit brüchiger, hoher Stimme. Die Melodie erinnerte an ein Schlaflied, doch kein Wort war zu verstehen. Es hörte sich an, als hätte sie sich ihre eigene Sprache erschaffen.
»Es ist gar nichts passiert«, sagte der alte Curzio. »Ihr seid gar nicht bis Montesecco gekommen. Ihr hattet unterwegs einen Autounfall. Gott sei Dank ist niemand verletzt worden.«
»Damit kommt ihr nicht durch«, sagte der Brigadiere.
Der Gesang aus der Kirche ging in würgende Geräusche über. Assunta übergab sich, hustete und fuhr fort zu singen.
»Helft lieber der alten Frau!« sagte der Brigadiere.
»Genau das tun wir«, sagte der alte Sgreccia. Er hob sein Gewehr an, so daß der Brigadiere in die Mündung blicken konnte.
Marisa Curzio sagte: »Ihr einziger Sohn wurde von einer Viper gebissen und ist nach Stunden elend daran gestorben. Auf der Todesanzeige neben ihrem Haus hat jemand höhnisch die Viper hochleben lassen. Ihr Mann hat geschworen, seinen Sohn nicht zu beerdigen, bis der Täter gefaßt wird. Es waren seine letzten Worte, bevor er selbst tödlich verunglückte. Zwei Leichen und diese Worte sind alles, was Assunta geblieben ist.«
»Natürlich ändert es nichts, wenn ihr die beiden Leichen mitnehmt«, sagte Elena Sgreccia. »Es würde nur Assuntas Herz endgültig brechen.«
»Wenn sie nicht einmal die Ehre ihres toten Sohns schützen und den letzten Wunsch ihres Mannes erfüllen kann.«
»Und deshalb fleht sie um ein Wunder.«
»Um das kleine Wunder, daß ein paar Polizisten beide Augen zudrücken«, sagte Elena Sgreccia.
Auf dem Asphalt stand der zweite Karton, den der Eismann aus seinem Lieferwagen geladen hatte. Die graue Pappe war unten durchgeweicht und hatte sich dunkel verfärbt. Weiter hinten lag ein Türflügel. Vor der rosafarbenen Kirchenfassade streckten zwei eingetopfte Palmen ihre spitzen Blätter von sich. Im Kirchenportal klaffte ein rechteckiges schwarzes Loch. Der Himmel über der Piazzetta war blau.
»Wir sind Polizisten«, sagte der Brigadiere. »Wir gehören zur ruhmreichen Arma der Carabinieri, und keiner soll sagen können, daß wir nicht getan haben, was zu tun war. Wir haben beide Augen offengehalten. Und die Ohren auch. Wir sind uns sicher, daß ihr die Toten in der Kühltruhe der Bar versteckt habt. Schon allein, weil die verdammte Truhe nirgends zu finden war ...«
»Was?« fragte der Fahrer des Streifenwagens.
»Wir haben ganz Montesecco durchsucht, zu viert«, fuhr der Brigadiere fort. »Haus für Haus, Keller, Lager, Ställe. Kirche und Bar natürlich auch. Leider ohne Erfolg. Oder hat einer von euch irgendwo eine Leiche entdeckt?«
»Nein«, sagte der junge Carabiniere.
»Nirgends«, sagte der ältere.
Der Streifenwagenfahrer schüttelte stumm den Kopf.
Der alte Sgreccia ließ als erster die Waffe sinken. Paolo Garzone und Angelo Sgreccia stemmten sich gegen das Dach des Polizeiwagens und hievten ihn wieder auf die Räder. Der Lack hatte ein paar Kratzer abbekommen. Daß die Seitenscheiben zersplittert waren, konnte man verschmerzen. Ein wenig Fahrtwind würde sicher angenehm kühlen. Es war ein heißer Tag.
4
Meist spielt das Herz schon vorher den Verräter,
wenn
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