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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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Nicht mehr. Man brachte niemanden um, den man verachtete. Niemanden, über den man lachte. Es genügte nicht einmal, jemanden abgrundtief zu hassen, um einen Mord zu begehen. Nein, man mußte sich verraten fühlen, fremd, hoffnungslos allein. Man mußte eine solch allumfassende Einsamkeit spüren, die es nicht zuließ, daß der und du von der gleichen Sonne beschienen wurden. Vannoni wußte, wovon die Rede war.
    »Giorgio war ein Wurm«, sagte er. Er reichte Antoniettadas Foto. Sie hatte schöne Hände. Am vierten Finger der linken Hand glänzte der Ehering, den ihr Giorgio angesteckt hatte. Vannoni begriff nicht, wieso sie ihn nicht abzog und die Toilette hinabspülte.
    Antonietta sah das Foto nicht an. Sie kannte es wohl gut genug. Vannoni fragte sich, wann sie es zum erstenmal gesehen hatte.
    Er blickte auf zu ihr, sah ihr streng zurückgestecktes schwarzes Haar, ihre dunklen Augen, ihre kaum merklich zitternden Lippen, und er fragte sich, wie es wohl war, wenn man entdeckte, von einem Wurm verraten worden zu sein, den man für seinen Ehemann gehalten hatte. Wieviel Fremdheit und hoffnungslose Einsamkeit man da verspürte.
    »Dafür, daß du mich für seinen Mörder hältst, hast du erstaunlich wenig Angst vor mir«, sagte Vannoni.
    »Da!« Antonietta gab ihm Catias Foto zurück. »Und jetzt verschwinde!«
    Vannoni sammelte auch die Gedichte ein und ging die Treppe hinab.
    Sie ähnelt dir, dachte er. Sie ist ein Mensch. Für jeden Menschen gibt es einen Punkt, an dem es zuviel wird.
    Dann schüttelte er den Kopf. Sie hätte es tun können. Aber nicht so. Nicht, indem sie Giorgio daran gehindert hätte, einen Schlangenbiß ärztlich versorgen zu lassen. Wenn sie es gewußt hätte, hätte sie ihm ein Messer in den Bauch gerammt. Wieder und wieder und wieder.
    Als die Carabinieri ohne die Leichen abzogen, hatte Montesecco eine erste große Schlacht gewonnen, doch noch lange nicht den Krieg. Es war gerade mal ein Teilerfolg auf einem Nebenkriegsschauplatz errungen worden. Der eigentliche Feind kam aber nicht von außen, er lauerte unerkannt innerhalb der Mauern Monteseccos. Er glich einem Virus, das irgendeinen harmlosen Nachbarn in einen heimtückischen, maßlos hassenden Verbrecher verwandelthatte, das sich ausbreitete und Denken wie Fühlen aller mit Mißtrauen infizierte.
    Der Sieg gegen die Polizisten war keinen Pfifferling wert, wenn man nicht in der Hauptsache vorankam. Es ging um nichts weniger, als die alte Ordnung wiederherzustellen. Das Alltagsleben mit all seinem Mief, den Streitereien, der sterbenslangweiligen Routine, die im nachhinein wie das Paradies erschien. Jetzt, nach dem Sündenfall.
    Und so wunderte es nicht, daß die Krieger auf der Piazzetta keineswegs triumphierten. Ein fast peinliches Gefühl der Beklommenheit erfaßte sie, verstohlen sahen sie einander in die Augen, als suchten sie nach Bestätigung, daß es nicht sie gewesen sein konnten, die nur wenige Minuten zuvor bereit gewesen waren, vier Polizisten abzuknallen.
    Wie Fremdkörper fühlten sich die Gewehre in ihren Händen an, man fragte sich, ob man sie mit gesenktem Lauf unter den Arm klemmen oder lässig über die Schulter legen sollte. Alles war falsch, und selbst als die Männer dem Beispiel Franco Marcantonis folgten und die Flinten an die Außenmauer der Kapelle lehnten, wich ihre Beklemmung nicht. Überrascht stellten sie fest, daß sie keine Ahnung hatten, was sie mit ihren Händen sonst so anstellten, wenn sie auf der Piazza bei den anderen standen. Vergruben sie sie in den Hosentaschen, ließen sie die Arme einfach baumeln, verschränkten sie sie hinter dem Rücken? Sie probierten alles aus, und nichts funktionierte, jede Haltung fühlte sich künstlich an, gezwungen, gewollt. Als hätten sich Arme und Hände in monströse Auswüchse umgebildet, mit denen umzugehen man ganz neu lernen mußte.
    Nur Ivan Garzone hatte nicht bemerkt, daß die Stimmung gekippt war. Lautstark krähte er seine Heldentaten heraus und verkündete, daß er den Staatsbütteln nie gewichen wäre, da hätten sie machen können, was sie wollten, und wenn sie mit Panzern und Maschinengewehrenangerückt wären, hätte er sich das Hemd aufgerissen, hätte ihnen die nackte Brust entgegengereckt und geschrien: »Nur über meine Leiche!«
    Die Umstehenden nickten abwesend und gruben die Finger so fest ineinander, daß die Nägel weiß wurden.
    Ein paar der Frauen hatten Assunta Lucarelli zur Bank unter der Esche geführt. Der Rücken der Alten krümmte sich in

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