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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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einer Traubenhyazinthe. Vannoni legte sie vorsichtig beiseite.
    Er nahm einen Briefumschlag aus dem Kästchen. Weiß, keine Briefmarke, unbeschriftet. Auch der Papierbogen, den er aus dem Umschlag zog, enthielt keine Anrede, weder ein intimes »Carissimo Giorgio« noch ein förmliches »Egregio signor Lucarelli«. Vannoni las:
    Wie soll ich meine Seele halten, daß
    Sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
    Hinheben über dich zu andern Dingen?
    Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
    Verlorenem im Dunkel unterbringen
    An einer fremden stillen Stelle, die
    Nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
    Die Gedichtzeilen waren mit blauer, schon etwas verblaßter Tinte geschrieben. Nein, das konnte nicht vonCatia stammen, es mußte schon älter sein. Die Handschrift fiel etwas nach links, die Unterlängen waren kurz, die Rundungen regelmäßig, und die Zacken der m s und n s endeten zuverlässig auf der gleichen Höhe. Vannoni kannte die Schrift. Er kannte sie sehr gut. Von früher, aus einer Zeit, in der Catia gerade mal zwei Jahre alt gewesen war. Es war die Handschrift seiner Frau.
    Maria hatte für Giorgio Lucarelli diese Verse aufgeschrieben, und er hatte sie gelesen, hatte gegrinst und irgend etwas Idiotisches wie »schön, aber nicht so schön wie du« gesagt, und dann hatten sie sich ausgezogen und waren miteinander ins Bett gegangen.
    So war das gewesen, dachte Vannoni. Er fand noch vier weitere Umschläge in Giorgios Kästchen. Er setzte sich aufs Bett, entfaltete das zweite Blatt und las:
    Im Winter ist meine Geliebte
    Unter den Fischen und stumm.
    Hörig den Wassern, die der Strich
    Ihrer Flossen von innen bewegt,
    Steh ich am Ufer und seh,
    Bis mich Schollen vertreiben,
    Wie sie taucht und sich wendet.
    Er sah Maria vor sich, wie sie in einer Winternacht vor dem Kamin saß, ein Buch auf den Knien, über das sie ins prasselnde Feuer starrte, so weit weg von ihm und von allem anderen. In dem Moment war er sich sicher gewesen, daß es einzig ihr Blick war, der das Holz knacken und die Flammen hochzüngeln ließ.
    »Was denkst du?« hatte er gefragt. »He, Maria, was denkst du gerade?«
    Und sie war aus irgendeiner fernen Welt aufgetaucht und hatte zurückgefragt: »Glaubst du, daß das Feuer ein Tier ist?«
    Natürlich hätte er einfach ja sagen müssen, ernst und wie selbstverständlich, aber das war ihm erst Jahre späterklargeworden. Damals hatte er gelacht, weil er nicht wußte, wie er sonst reagieren sollte. Maria hatte sich nichts anmerken lassen, sie hatte sich auch nicht gewehrt, als er sich zu ihr setzte und den Arm um sie legte. Ihr Körper war warm gewesen, entspannt, nur ihre Finger krallten sich um das Buch, als wolle sie es mit ihrem Leben verteidigen. Vannoni wußte nicht, welches Buch es gewesen war. Er hatte sich nicht dafür interessiert.
    Ich will die Nacht um mich ziehn als ein warmes Tuch
    Mit ihrem weißen Stern, mit ihrem grauen Fluch,
    Mit ihrem wehenden Zipfel, der die Tagkrähen scheucht,
    Mit ihren Nebelfransen, von einsamen Teichen feucht.
    Ich hing im Gebälke starr als eine Fledermaus,
    Ich lasse mich fallen in Luft und fahre nun aus,
    Mann, ich träumte dein Blut, ich beiße dich wund,
    Kralle mich in dein Haar und sauge an deinem Mund.
    Es war dieses Fremde, das ihn an Maria fasziniert hatte. Vom ersten Moment an war sich Vannoni sicher gewesen, daß sie genausowenig mit den anderen zu tun hatte wie er selbst, daß sie gleich dachte und fühlte, und der Beweis war der Panzer, mit dem sie sich gegen die Außenwelt abschirmte. Natürlich versuchte er immer wieder, zu ihrem wahren Ich durchzudringen, doch gelang es ihm nie. Unter jeder Panzerschicht fand sich eine neue, und wenn er ehrlich war, liebte er sie gerade dann am meisten, wenn er sie überhaupt nicht verstand.
    Wenn sie eine dunkle Bemerkung machte, die wie eine Luftblase vom moorigen Grund eines Teichs aufstieg. Wenn sie mitten in einer Bewegung verharrte, als habe ein Gott die Zeit angehalten, um der Stille des Nichts zu lauschen. Sogar wenn die Jahrtausende, die sich in ihrem Blick abgelagert hatten, ihn und das Zimmer und die Welt in Luft auflösten. In solchen Momenten vermochte ernicht zu reagieren. Er sah Maria nur an, sagte nichts, wußte, daß er nichts zählte, und war dennoch glücklich. So, als habe er etwas Wichtiges begriffen, auch wenn er es nicht zu benennen wußte. Und dann war es vorbei, Maria lächelte ihn an und setzte das Nudelwasser auf und legte Catia in die Wiege und setzte sich neben ihn

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