Die Vipern von Montesecco
die steinerne Lehne. Unter schlohweißem Haar lagen die geschlossenen Augenlider tief in ihrem eingefallenen Gesicht. Man hätte sie für tot halten können, wenn da nicht das Wippen ihrer Füße gewesen wäre. Vor und zurück, vor und zurück. Die abgetretenen Sohlen der schwarzen Schuhe schleiften über den Asphalt.
»Es ist vorbei«, murmelte Milena Angiolini.
»Alles wird gut«, sagte Lidia Marcantoni. Sie hatte Paty Garzone auf ihrem Schoß sitzen und drückte sie an sich. Die Lippen des Mädchens waren zwei dünne, blutleere Striche. Mit den Augen folgte es den Bewegungen seiner Mutter, die die Glasscherben und Lacksplitter von dem umgestürzten Polizeiwagen erst in der Mitte der Piazzetta zusammenfegte und dann auf eine Schaufel kehrte. Marta Garzone packte auch den durchweichten Eiskarton darauf und verschwand damit in der Bar. Als sie wieder herauskam, trug sie einen Putzeimer in der linken Hand. Sie stellte ihn ab.
»Was soll denn das?« fragte Ivan.
Marta Garzone starrte vor sich auf den Boden. Das ausgelaufene Eis war in dunklen, klebrigen Strömen eingedickt. Fliegen ließen sich darauf nieder. Marta kniete sich hin, tauchte den Putzlumpen ins Seifenwasser und wrang ihn über dem Eimer aus. Sie begann den Boden zu scheuern. Auf dem rauhen Asphalt hinterließ der Lumpen Fusseln. Marta wusch ihn aus und klatschte ihn wieder auf den Boden.
»Hör auf!« sagte Ivan.
»Es stinkt. Das ist die Hitze«, sagte Marta. Sie sah nichtauf, wischte nun mit beiden Händen, so wie die Frauen früher das Weißzeug auf dem Waschstein gerieben hatten.
»Riechst du es nicht?« fragte Marta. »Diesen Gestank nach Tod und Verwesung?«
»Bist du verrückt geworden?« fragte Ivan.
»Laß sie!« sagte Franco Marcantoni.
»Das ganze Dorf muß geputzt werden«, sagte Marta. Sie tauchte den Lumpen ins Wasser.
»Sie hat ja recht. Die Leichen müssen weg!« sagte Marisa Curzio.
Marta scheuerte. Knapp einen Quadratmeter hatte sie schon geschafft. Vielleicht den fünfzigsten Teil der Piazzetta, wenn man die gepflasterte Auffahrt nicht mitrechnete, die an der Mauer entlang zum Tor hinabführte.
»Was ist los mit dir?« Ivan ging neben dem Eimer in die Hocke und griff nach den Handgelenken seiner Frau.
»Sie hat es einfach nicht mehr ausgehalten«, sagte Franco Marcantoni.
»Sieh mich an!« sagte Ivan. »Hast du irgend etwas getan, was ...?«
Martas Finger krallten sich in das grobe Tuch des Lumpens.
»Sieh mich, verdammt noch mal, an!« zischte Ivan.
»Hol deinen Lieferwagen, Paolo! Wir fahren die Eistruhe weg«, sagte der alte Curzio. Paolo Garzone nickte. Er wischte sich die Handflächen an der Hose ab und ging.
»Hast du etwa den Carabinieri gesagt ...?« fragte Ivan.
»Ja!« Marta brüllte auf den Putzlumpen vor sich ein. »Ja, ja, ja!«
Ivan stand auf. Er blickte um sich, musterte die Gesichter, die er seit vielen Jahren kannte. Seit acht Jahren sah er sie Tag für Tag. Seit sein Cousin Paolo ihm mitgeteilt hatte, daß die Bar zu pachten war. Zusammen mit Marta war er hergefahren, um sie sich anzusehen. Die Lage war schön, die Aussicht wundervoll, aber sie hatten nicht sofort zugesagt,hatten einen Abend und eine Nacht lang geredet. Marta hatte durchkalkuliert, was wohl herausspringen würde und ob man davon die Kinder ernähren konnte, die sie noch gar nicht hatten, und Ivan hatte hochfliegende Pläne geschmiedet, hatte in Gedanken schon ein Stockwerk aufgesetzt, eine Sala Giochi eingerichtet, eine Freiluftpizzeria mit künstlichem Wasserfall angegliedert.
Ivan begann zu kichern. Manchmal kam alles etwas anders, als man es sich vorgestellt hatte. Meistens, eigentlich. Ivan holte sich eine große Flasche Weißwein aus der Bar und setzte sich mit dem Rücken zur Piazzetta auf die Balkonbrüstung. Die Füße ließ er über dem Abgrund baumeln. An den Fuß der Mauer unter ihm duckten sich halb vertrocknete Büsche. Die Mittagshitze drückte schwer auf die Hügel. Der Horizont flimmerte. Ivan setzte die Flasche an, doch er schluckte nicht, sondern spie den Wein wieder aus.
Er wandte sich nicht um, als Paolo seinen Fiat Ducato mit dem Heck zum Bareingang hin rangierte. Mit vereinten Kräften wuchteten die Männer die Eistruhe in den Laderaum. Sie fluchten, doch kam darin nur die Erleichterung zum Ausdruck, mit ihren Händen irgendwo sinnvoll anpacken zu können.
Es war Lidia Marcantonis Idee, die Truhe in der Rapanotti-Familiengruft auf dem Friedhof zu verstecken, nicht weit von den Grabkammern entfernt, in denen
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