Die Vipern von Montesecco
...«
»Ich weiß es«, unterbrach ihn Sgreccia. Er sah auf seine Armbanduhr. »Seit zwanzig Minuten. Los, sag es ihm, Catia!«
»Nein!« Catias Augen sprühten vor Zorn. »Das sollte unter uns bleiben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du hättest den Mund halten müssen, Angelo. Du hast es versprochen.«
»Los!« sagte Sgreccia. Er lachte. »Wir haben doch alle keine Geheimnisse voreinander.«
»Nein, nicht so!« Catia sprang auf und wollte sich an Vannoni vorbei durch die Tür drücken. Er hielt sie am Oberarm fest.
»Was sollst du mir sagen?« fragte er.
Catia blickte ihn an. In ihren Augen glaubte Vannoni Angst zu lesen. Und die flehende Bitte um Verständnis. Es ist gut, dachte er, und er fühlte sich plötzlich so leicht, als seien Tonnengewichte von ihm abgefallen. Als könne er zum erstenmal wieder frei durchatmen, seit er nach Montesecco zurückgekehrt war. Er atmete durch und sagte: »Es ist gut, was immer es auch sei.«
»Na also!« sagte Sgreccia viel zu laut.
»Ich weiß nicht, warum ich mit ihm darüber gesprochen habe.« Catia deutete auf Angelo, ohne sich umzudrehen. »Es war ... wegen gestern abend vielleicht. Weil sie ihn so fertiggemacht haben. Bis auf die Knochen ausgepreßt.Weil ich es nicht mehr aushielt, daß hier alles nach Lüge stank. Weil wenigstens ich ihm Vertrauen schenken sollte. Weil er sich ein Leben lang um mich gekümmert hat.«
Vannoni strich ihr über die Wange. Es fühlte sich seltsam an. Es war fünfzehn Jahre her, daß er das getan hatte.
»Was sollst du mir sagen?« fragte er.
»An jenem Abend im Karneval bin ich Giorgio Lucarelli über den Weg gelaufen. Er war ziemlich besoffen und hat sich übel über meine Begleitung ausgelassen. Es kam zum Streit, bis ich sagte, daß er sich um seine Sachen kümmern soll und daß ihn mein Leben gar nichts anginge. Da hat er sich schwankend vor mir aufgebaut und behauptet, ich wäre seine Tochter. Ich habe bloß gelacht und bin mit meinem Freund abgezogen.«
»Vater Nummer drei!« Sgreccia grinste hohl.
Vannoni ließ Catia los und setzte sich aufs Bett. War das möglich? War es möglich, daß Maria und Lucarelli jahrelang ein Verhältnis gehabt hatten, ohne daß er oder sonst irgendwer im Dorf etwas geahnt hatte? War es möglich, daß das Mädchen dort am Türrahmen Giorgio Lucarellis Balg war?
Vannoni musterte Catia, suchte nach irgendeinem Indiz, das diesen Schwachsinn widerlegen konnte, das ihn auflachen und ihn seine Tochter fragen ließe, ob sie einem besoffenen Lucarelli mehr glaube als der Stimme des Blutes, doch er fand nichts, er sah nur ein fremdes, schwangeres Mädchen, dessen Foto er in Lucarellis Schatzkästchen gefunden hatte, und darüber schoben sich Bilder von Maria, wie sie ins Feuer starrte, wie sie aus unergründlichen Gedanken aufzutauchen schien und ihn anlächelte, als sei nichts geschehen, und gerade wollte er sagen, daß ihm das Bett zu weich vorkam, als er sah, wie sich die Lippen des schwangeren Mädchens bewegten, doch er hörte nur Sgreccias Stimme, die »männliche Intuition« zischte und dann irrsinnig zu lachen begann, weil Vannoni mit dem fremden Mädchen den Nachnamen gemein hatte,aber er vermochte nichts dagegen zu tun, da die Zimmerwände immer schneller rotierten, so daß er sich an einem Gewehr festhalten mußte, das ihm zuwisperte, er müsse das Fremde auslöschen, den fremden Blick, und sein Kopf ächzte, während ein Baby nach einem seiner Väter schrie, und knapp überm Horizont stand ein riesiger nackter weißer Hintern, der Giftschlangen über Montesecco schiß, bevor er kichernd unterging.
Vannoni hatte sein Zeitgefühl völlig verloren, doch lange konnte er nicht ohnmächtig gewesen sein, denn Catia lehnte noch immer am Türrahmen, und Sgreccia saß mit demselben dümmlichen Grinsen auf seinem Stuhl am Schreibtisch. Auch Vannoni saß aufrecht. Er fragte sich, ob man überhaupt von einer Ohnmacht sprechen konnte, wenn man dabei nicht umfiel. Dann fragte er sich, warum er sich so sinnlose Fragen stellte.
»Könnte es sein?« fragte Catia. »Könnte Giorgio Lucarelli mein Vater gewesen sein?«
»Du hast nichts geahnt? Vor jenem Abend?« fragte Vannoni.
Catia schüttelte den Kopf. Sie war siebzehn Jahre alt. Vor vier Monaten hatte Lucarelli sich zu ihrem Vater erklärt. Im Suff. Während eines Streits. Und vorher hatte er sich nie anders verhalten als der Rest der Dorfbewohner? Kein kleines Geschenk zwischendurch, kein stolzer Blick, kein unvermitteltes In-den-Arm-Nehmen? Siebzehn
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