Die Vipern von Montesecco
guten Vierteln von Detroit.
Mary stand wie angewachsen neben der hinteren Steinbank, ein dicker rosa Fleck, zu dessen Füßen sich Gigolo die Seele aus dem Leib kläffte, die Nackenhaare gesträubt, die triefenden Augen auf die Stelle gerichtet, wo die Balkonbrüstung in einen rostigen Maschendrahtzaun überging.
Dort, am Fuß der Mauer, in deren Spalten sich ein paar Wolfsmilchpflanzen festkrallten, war die Viper. Sie hatte sich in Drohhaltung aufgerichtet, so daß die gelblichbraunen Schuppen an der Unterseite des Halses sichtbar waren. Der V-förmige Kopf lief in einer nach oben vorspringenden Spitze aus. In den gelben Augen öffneten sich vertikal geschnittene Pupillen.
»Geh zurück, Mary!« rief der Americano. »Langsam, for Christ’s sake!«
Die Amerikanerin rührte sich nicht.
Gigolo bellte unaufhörlich. Seine Vorderpfoten zuckten nervös.
»Kscht!« sagte Costanza Marcantoni. Gigolos Bellen erstarb in einem dumpfen Knurren. Costanza stand auf, trippelte zu der Amerikanerin, griff sie am Oberarm und führte sie zurück zu den anderen. Gigolo wandte den Kopf zurück und wieder nach vorn, kläffte noch einmal der Schlange entgegen und folgte dann den beiden Frauen.
Die Viper verharrte in ihrer Drohstellung, nur der Kopf schwankte fast unmerklich zur Seite, und ganz kurz fuhr die gespaltene Zunge aus dem Maul, um gleich wieder darin zu verschwinden.
»Wie kommt die Schlange hierher?« fragte Franco Marcantoni.
»Schlagt sie tot!« sagte Antonietta Lucarelli.
Der alte Sgreccia trat unter dem Baum hervor und spannte sein Gewehr.
»Nein«, sagte Costanza Marcantoni. »Angelo soll es tun. Und nicht mit dem Gewehr!«
»Unsinn!« sagte der alte Sgreccia. Er legte an. Costanza stellte sich vor die Mündung des Gewehrs.
»Geh aus dem Weg!« sagte der alte Sgreccia.
»Nein, sie hat recht«, sagte Franco. »Angelo muß es tun.«
»Und nicht mit dem Gewehr!« wiederholte Costanza.
»Das ist er uns schuldig!« sagte Lidia Marcantoni dunkel.
Marisa Curzio lief los und kam mit einem Gartenrechen und einem Spaten zurück. Angelo sagte nichts. Er griff nach dem Rechen. Benito Sgreccia ließ seine Waffe sinken.
Angelo hielt den Rechen mit beiden Händen. Langsam, Schritt für Schritt, ging er aufs hintere Eck der Piazzetta zu. Als die Zinken des Rechens nur noch einen halben Meter von der Viper entfernt waren, bog sie den Kopf noch weiter nach hinten, so daß der vordere Teil ihres Körpers ein S bildete. Ihr Maul zeigte nun fast senkrecht nach oben. Ein Pfeil mit vergifteter Spitze auf einem bis zum Äußersten gespannten Bogen. Hundert Prozent gestaute Energie, die loszubrechen verlangte. Angelo erstarrte in der Bewegung. Auf der Piazzetta hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Draußen in der Nacht zirpten die Grillen, als sei nichts geschehen.
Und dann begann die Viper zu singen. Erst klang es nur wie ein klapperndes Geräusch, ein leicht metallisch nachtönendes »Klack, klack, klack«, doch dann ließen sich kurze, warnende Pfiffe erkennen, deren Untertöne die Luft zu kräuseln schienen und in einem kalten Hauch ausliefen, der die Härchen auf der Haut aufstellte. Vielleicht ließ einen nur die Einbildung unterschiedliche Töne ausmachen, die sich zu einer fremden Melodie fügten, vielleicht entsprang der Rhythmus darin nur dem Blut, das in den eigenen Ohren rauschte, doch später waren sich alle einig, daß sie sich nichts vorgemacht hatten. Die Viper hatte tatsächlich gesungen.
Das Lied handelte vom Töten. Es klagte nicht darüber, es begehrte nicht dagegen auf, es sang vom kalten Trost des Kriegs. Vom Töten und seinem Sinn. Daß es das einzige war, was zwei Leben, die verschiedenen Welten angehörten, miteinander verband. Daß, wer getötet wurde, nicht allein starb. Und daß mit dem Schrecken und derFurcht und der Fremdheit und dem Nichtverstehen, das sich Leben nannte, irgendwann Schluß sein mußte. Und daß dafür jeder Moment gleich gut war. So endete das Lied.
Sie stießen gleichzeitig zu. Die Viper mit weit aufgerissenem Schlund, Ober- und Unterkiefer zu 180 Grad gespreizt, die Giftzähne nach vorne gerichtet. Angelo, der mit dem ganzen Gewicht seines Körpers den Rechen nach unten rammte. Eine der Zinken schlug durch platzende Schuppen, stoppte den Flug des Giftpfeils, und die Kiefer der Schlange schlossen sich mit einem dumpfen Laut um nichts. Während ihr Kopf noch zurückschnellte, um den zweiten Angriff einzuleiten, kreischten die Zinken des Rechens schon auf dem Asphalt
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