Die Vipern von Montesecco
Stromausfall aus. Milena tröstete sich damit, daß wenigstens das Radio nicht defekt war. Es dauerte ein wenig, bis ihr einfiel, daß der Elektroherd dann ebenfalls nicht funktionierte. Sie öffnete die Herdklappe, stelltefest, daß die Lasagne noch steinhart waren, und verließ ihr Haus, um schräg gegenüber bei Marisa Curzio nachzufragen, ob dort auch der Strom ausgefallen war.
Wahrscheinlich scheuchte Milena die Schlange auf, als sie die Stufen zur Piazza hochstieg. Obwohl die Viper gerade mal zwei Handspannen lang war und sich rasch von ihr fort übers Pflaster schlängelte, blieb Milena wie gelähmt stehen. Sie stierte dem schwarzen Zickzackmuster nach, bis es unter Paolos Lieferwagen verschwand. Dann erst rief Milena nach den Nachbarn, ohne den Blick jedoch auch nur einen Moment von dem weißen Fiat Ducato zu wenden, unter dem sich die Viper versteckt hielt.
Antonietta Lucarelli und die Curzios waren als erste auf der Piazza. Gemeinsam beschloß man, sich mit allem, was geeignet schien und greifbar war, zu bewaffnen und in gebührender Entfernung einen Belagerungsring um das Versteck der Schlange zu ziehen. Sabrina wurde ausgeschickt, um Paolo zu holen, doch sie vermochte ihn nirgends zu finden. Da der Lieferwagen also nicht weggefahren werden konnte, mußte die Schlange irgendwie aufgescheucht werden. Nach einigen Steinwürfen kam sie neben dem linken Vorderrad hervor und wand sich, so schnell sie konnte, auf die hangwärts gelegene Pinienpflanzung zu. Bevor sie über das Mäuerchen im Gras verschwinden konnte, traf Gianmaria Curzio mit dem zweiten Schuß aus seinem Jagdgewehr.
Die Schlange wurde von der Kugel fast in zwei Teile zerrissen. An der Kopfform konnte sie dennoch zweifelsfrei als Orsini-Viper identifiziert werden. Diese Spezies ist wegen ihrer relativ geringen Giftmenge und den zu kurzen Giftzähnen für Menschen kaum gefährlich. Seit der Antike ist kein Todesfall dokumentiert, der auf den Biß einer Orsini-Viper zurückginge. Das in Montesecco erlegte Exemplar würde daran sicher nichts ändern.
Franco Marcantoni hatte als einziger schon eine solche Viper gesehen, aber vor dreißig Jahren und auf einerfelsdurchsetzten Bergwiese hoch oben am Monte Catria, dessen markanter Gipfel in fünfzehn Kilometern Entfernung in den blauen Himmel stach. Der Americano vermutete, daß der ungewöhnlich heiße Sommer die Schlange auf der Suche nach Wasser ins Tal getrieben habe, doch im Grunde wußte jeder, daß das mehr als unwahrscheinlich war. Orsini-Vipern mieden das Habitat anderer Vipernarten, und selbst wenn diese hier eine Ausnahme gemacht haben sollte, wäre sie schlichtweg nicht in der Lage gewesen, von ihrem angestammten Territorium bis nach Montesecco zu gelangen.
»Es ist immerhin eine Schlange und kein Zugvogel«, nuschelte Franco Marcantoni. »Jemand muß sie hergebracht und ausgesetzt haben.«
»Erinnerst du dich, was Großmutter erzählt hat?« sagte Lidia Marcantoni. »Daß es Zeiten gebe, in denen die Vipern in die Luft gingen und wie Pfeile durch die Nacht schwirrten. Sie seien fähig, Sprünge von mehreren hundert Metern zu machen, würden landen und wieder losschnellen und fliegen, und am Morgen wären sie da, wo noch nie eine Viper gesehen wurde und wo man nie eine vermuten würde.«
»Ammenmärchen!« sagte Franco Marcantoni verächtlich.
»Wenn die Vipern fliegen, ist die Welt aus den Fugen«, sagte Lidia Marcantoni und starrte angestrengt in den Himmel über dem Palazzo Civico, als müsse dort jeden Moment ein Geschwader an Giftschlangen im Formationsflug auftauchen.
Milena Angiolini zwang sich, ihre Augen von der zerfetzten Viper zu wenden. Vielleicht etwas zu beiläufig plapperte sie über die Lasagne, die noch nicht mal halb gar bei ihr im Herd standen. Auch andere hatten den Stromausfall bemerkt. Bei Antonietta lag eine Ladung Wäsche in der Waschmaschine, bei Franco Marcantoni war das Nudelwasser gerade handwarm geworden. MarisaCurzio, die als eine der wenigen im Dorf noch mit Gasflaschen kochte, bot denen ihren Herd und zwei Kochflammen an, die auf ein warmes Mittagessen nicht verzichten wollten.
Während Milena die Lasagne über die Gasse trug, rief Gianmaria Curzio bei der ENEL an, um die Störung zu melden. Er erfuhr, daß keine Wartungs- oder Reparaturarbeiten, die Montesecco betreffen könnten, im Gange seien und daß man die Leitungen unverzüglich überprüfen werde. Als bei einem Spätherbststurm ein paar Jahre zuvor ein umgestürzter Baum die Drähte gekappt
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