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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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hatte, war der Schaden binnen weniger Stunden behoben gewesen. Es war also zu erwarten, daß man das Abendessen schon wieder am heimischen Herd zubereiten konnte.
    Ein längerer Stromausfall konnte vor allem wegen der Vorräte problematisch werden. Selbst wenn man die Kühlschränke geschlossen hielt, war fraglich, wie lange ihre Isolierung den Wüstentemperaturen in den Häusern standhalten würde. Das Thermometer im Salotto der Curzios zeigte schon achtunddreißig Grad an und würde noch weiter steigen. Lidia Marcantoni hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    »Der Atem einer Viper ist so giftig, daß ein Hund stirbt, wenn er ihn einschnuppert«, sagte sie. »Und wenn sie trinkt, verströmt sie ihr Gift im Wasser, so daß das Vieh in Gefahr ist, wenn es zur Tränke kommt. Man muß deshalb zwei Zweige in Kreuzform auf der Wasseroberfläche treiben lassen. Nur wenn sie übereinander bleiben, ist das Wasser sicher.«
    »Nein«, sagte Fiorella Sgreccia. »Bei uns zu Hause hieß es, daß die Viper, bevor sie trinkt, ihre Giftzähne am Ufer des Bachs ablegt. Das sei die einzige Gelegenheit, sie ohne Gefahr zu fangen oder zu töten.«
    »Das gilt nur für den Sette-passi«, sagte Lidia.
    »Wer ist der Sette-passi?« fragte Milena Angiolini. Sie holte die dampfenden Lasagne aus dem Herd.
    »Die letztgeschlüpfte männliche Viper. Das ist die aggressivste und giftigste von allen. In Vollmondnächten lauert sie Passanten auf, die sie dann verfolgt, indem sie sich in den Schwanz beißt und wie ein Rad blitzschnell hinter ihnen herrollt. Wer vom Sette-passi gebissen wird, stirbt in dem Zeitraum, den man braucht, um sieben Schritte zu tun. Daher der Name.«
    Zu zehnt saßen sie um den Tisch und teilten sich die Gerichte, die auf Marisa Curzios Gasherd zubereitet worden waren. Neben den Lasagne gab es gedünstetes Gemüse und Spaghetti mit Tomatensugo. Auch wenn Marisa noch zusätzlich Nudeln ins Wasser geworfen hatte, fielen die Portionen kleiner als üblich aus. Fast wie in früheren Zeiten, als die Not herrschte, streckte man die Speisen, indem man Anekdoten und Geschichten zum besten gab. Es war kaum verwunderlich, daß alle um dasselbe Thema kreisten.
    Fiorella Sgreccia behauptete, daß der abgeschlagene Kopf einer Viper noch bis zum Sonnenuntergang weiterleben würde. Von den schnurrbärtigen Vipern der Bergregionen wurde erzählt und daß man im Zickzack flüchten müsse, wenn man von einer Viper verfolgt würde. In den Alten erwachte eine um die andere Erinnerung, die im Laufe der Jahrzehnte verschüttet worden war, und die Jüngeren lächelten zwar, wagten aber nicht, sich offen über den kindischen Aberglauben lustig zu machen. Zu tief saß die Bestürzung über die zwei Giftschlangen am selben Tag, über ihr rätselhaftes Auftauchen, und niemand wollte sich mit der Forderung nach rationalen Erklärungen an die Frage heranwagen, wer denn vorsätzlich jeden Schritt im Dorf zu einer tödlichen Gefahr werden ließ.
    Nach dem Essen wurde gemeinsam abgewaschen, denn natürlich funktionierte auch Marisa Curzios Geschirrspülmaschine nicht. Die Schreckensgeschichten um die übernatürlichen Eigenschaften der Vipern blühten dabei weiter und wucherten in einen Streit zwischen LidiaMarcantoni und Fiorella Sgreccia aus, bei dem es darum ging, ob ein Nußbaumzweig oder der Stein des heiligen Giuliano besseren Schutz vor den Schlangen bot. Es schien fast, als sei mit der Stromleitung auch die Verbindung zur Gegenwart zusammengebrochen, als sei mit den Elektrogeräten auch der kritische Verstand stehengeblieben.
    Niemand wollte nach Hause gehen. Man stellte die Stühle hinaus auf die Piazza und sah der Sonne auf ihrem Weg nach Westen zu. Vielleicht war es die Furcht vor den lichtlosen Gassen und Zimmern, die Gianmaria Curzio dazu bewegte, ein paar Stunden vor Anbruch der Nacht noch einmal bei der ENEL anzurufen. Er bekam einen anderen Angestellten an den Apparat, der ihm nach kurzen Nachforschungen mitteilte, daß die Leitung nach Montesecco tatsächlich unterbrochen sei.
    »Ach ja? Und warum hat uns das niemand vorher mitgeteilt?« fragte der alte Curzio.
    »Es handelt sich um unvorhersehbare technische Probleme.«
    »Und wann werden die behoben sein?«
    »Wir arbeiten daran.«
    »Um halb neun beginnt das Länderspiel gegen die Schweiz«, sagte Curzio in der Hoffnung, daß der Angestellte dieses Fernsehereignis als ebenso unverzichtbar betrachtete wie die überwältigende Mehrheit der

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