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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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Jahre lang die eigene Tochter verleugnen? Eine Tochter, deren Mutter tot war und deren vermeintlicher Vater im Knast saß? Nein, das war undenkbar. Dazu wäre nicht einmal einer wie Giorgio Lucarelli fähig gewesen. Es wäre unmenschlich gewesen.
    »Könnte er mein Vater gewesen sein?« fragte Catia. Sie setzte sich neben Vannoni.
    Und das dann der Tochter nach siebzehn Jahren zu sagen! Im Suff. Im Streit. Vannoni stellte sich vor, wie er an Catias Stelle reagiert hätte. Nach siebzehn JahrenGleichgültigkeit. Er hätte Lucarelli umgebracht. A uf der Stelle. Oder zumindest, sobald er sich klar darüber geworden wäre, daß ein Vater, der sein Kind verleugnet, hundertmal schlimmer ist als kein Vater. Er an Catias Stelle hätte ihn so langsam und grausam wie möglich umgebracht. Er hätte dabei zugesehen. Und jede einzelne Minute seines Sterbens genossen.
    »War er es?« schrie Catia ihn an.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Vannoni leise.

5
    Denn weithin schweifende Hoffnung,
    vielen ist sie ein Trost,
    vielen ein Trugbild eitler Gelüste,
    des Ahnungslosen Weggenosse,
    bis sein Fuß auf Feuer tritt.
    Sophokles: Antigone, Verse 615–619

Bis zu einer Höhe von 2400 Metern und in den südlichen Alpen sogar bis 2 900 Meter finden sich in Italien Vipern. Auf einigen kleinen Inseln wie Montecristo scheinen sie in historischer Zeit von Sizilien aus eingeführt worden zu sein, vielleicht von phönizischen Seeräubern oder karthagischen Soldaten, die lebende Giftschlangen als Angriffswaffen beim Entern von feindlichen Schiffen zu verwenden pflegten.
    Das Habitat der vier verschiedenen italienischen Vipernspezies reicht von den Sumpflandschaften des Po-Deltas und den Sanddünen an der Adria über Macchia, Felder, Wälder und Bergwiesen bis zu den unwegsamsten Felsformationen des Apennin. Genaue Untersuchungen zur Auftretenshäufigkeit liegen nur für lokal eng begrenzte Gebiete vor. Silvio Bruno berichtet von einer Feldstudie aus dem Jahr 1967, nach der auf einem Gebiet von fünfeinhalb Hektar neunzig bis hundert Exemplare der Vipera Berus identifiziert worden sind. Das würde bedeuten, daß auf der Größe eines Fußballfelds an die neun Vipern leben. Andere Untersuchungen lassen sogar noch dichtere Populationen vermuten.
    Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit, einer Viper zu begegnen, relativ gering. Das liegt nicht nur an der jahrhundertelang kultivierten Weigerung der Menschen, in den von ihnen beanspruchten Gebieten auch Giftschlangen ein Lebensrecht zuzugestehen, sondern vor allem an der Natur der Vipern, die entgegen ihrem Ruf ein eher scheues Verhalten an den Tag legen und normalerweise schon bei der Annäherung eines Menschen fliehen.
    Insofern ist es als äußerst ungewöhnlich zu bezeichnen,daß an einem einzigen Tag drei Vipern innerhalb der Mauern von Montesecco gesichtet wurden. Wie an den Kadavern, die später von den Dorfbewohnern auf der Piazzetta ausgelegt wurden, zweifelsfrei zu erkennen war, handelte es sich um zwei Exemplare der Vipera Comune und um eine Vipera dell’Orsini, was vom wissenschaftlichen Standpunkt aus bemerkenswert ist, da diese Spezies in Italien normalerweise nur in höheren Lagen angetroffen wird.
    Eine der gemeinen Vipern, ein noch nicht geschlechtsreifes Weibchen von eher bescheidenen Dimensionen, wurde von den Männern, die am Morgen die Kirchentür reparieren wollten, auf der Türschwelle entdeckt, mit aufgeregtem Geschrei durch das Kirchengestühl gejagt, am Seitenaltar unter der Christusfigur in die Enge getrieben und mit mehreren Spatenhieben getötet. Die Suche nach weiteren Schlangen blieb ergebnislos, doch zur Sicherheit wurde die Kirchentür nach erfolgter Reparatur verschlossen.
    Wenige Stunden später, gegen halb zwölf, schob Milena Angiolini eine Backform mit Lasagne in den Herd und schaltete das Radio an, um das Wochenhoroskop auf »Onda più« zu hören. Nebenher spülte sie das Kochgeschirr, das sie für das Anbraten des Hackfleisches und die Zubereitung der Sahnesauce verwendet hatte. Mitten im Horoskop für das Sternzeichen Steinbock setzte das Radio plötzlich aus. Milena war Wassermann. Bei ungünstigen Voraussagen konnte man immerhin Vorsicht walten lassen, aber überhaupt kein Horoskop zu bekommen war Milena noch nie passiert und schien ihr ein äußerst schlechtes Omen zu sein.
    Sie schaltete das Radio aus und wieder ein, doch es blieb tot. Milena drückte auf den Lichtschalter in der Küche. Nichts rührte sich. Da die Sicherungen intakt waren, sah alles nach

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