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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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ganze Dorf laufen sollen?« fragte Franco Marcantoni.
    »Vannoni soll vorläufig unter Beobachtung bleiben«, sagte Marisa Curzio. »Eine reine Vorsichtsmaßnahme, sagen die Ärzte. Bei seiner Konstitution brauchen wir uns keine übertriebenen Sorgen zu machen. Darüber nicht.«
    »Darüber nicht?«
    Marisa sagte: »Ich wollte mit dem Sieben-Uhr-Bus bis zur Kreuzung unten fahren, habe aber vor der Eisenwarenhandlung Luigi getroffen, der mich dann mitgenommen hat. Auf der Heimfahrt hat er mir erzählt, daß er heute vormittag zwei ENEL-Monteure an der Stromleitung nach Montesecco arbeiten sah.«
    »Am Vormittag?« fragte Gianmaria Curzio.
    Marisa nickte. »Und ein Streifenwagen der Carabinieri stand auch dabei.«
    »Wieso haben die unter Polizeischutz an der Leitung herumrepariert?«
    »Und zwar bevor wir gemeldet hatten, daß hier der Strom ausgefallen war?«
    »Die haben nicht repariert«, sagte der alte Curzio. »Ganz im Gegenteil. Die haben die Leitung lahmgelegt.«
    »Die wollen uns kleinkriegen«, nuschelte Franco Marcantoni empört. »Wahrscheinlich haben sie auch die Vipern ins Dorf geschmuggelt.«
    »Das können die nicht machen. Ich rufe sofort an«, sagte Gianmaria Curzio.
    In der Gemeinde war niemand mehr zu erreichen, doch Curzio erwischte den Assessore zu Hause. Der gab sich untröstlich über die Unpäßlichkeiten, aber die Strommasten seien morsch, so daß man ganz Montesecco vom Netz habe nehmen müssen, um eine Gefahr für Leib und Leben von eventuellen Passanten auszuschließen.
    »Welche Passanten?« fragte Curzio.
    Man müsse immer mit dem Schlimmsten rechnen, wenn man Verantwortung im administrativen Bereich trage, meinte der Assessore.
    »Die toten Lucarellis spielen bei der Sache keine Rolle?« fragte Curzio.
    Natürlich nicht, beeilte sich der Assessore zu sagen, wobei andererseits durchaus Entwicklungen denkbar wären, die eine wohlwollende neuerliche Prüfung der Sicherheitslage geboten scheinen ließen.
    »Die wollen uns erpressen«, sagte der alte Marcantoni, nachdem Curzio von dem Telefonat berichtet hatte. »Wir sollen die Toten ausliefern.«
    »Und wenn wir es nicht tun, lassen sie uns so lange ohne Strom, bis sich die Eistruhe so aufheizt, daß uns der Verwesungsgestank mürbe macht. So wenigstens haben die sich das vorgestellt. Die wissen ja nicht, daß wir die Truhe aus dem Dorf geschafft haben.«
    »Ob der Friedhof noch Strom hat?« fragte Milena Angiolini. Alle zusammen marschierten zur Piazzetta hinauf, wo sich fast der gesamte Rest der Dorfbewohner eingefunden hatte. Marta stellte Kerzen auf, und Ivan steckte Gartenfackeln in leere Weinflaschen. Von Westen her färbte das Abendrot den Himmel ein, doch noch lag mildes Tageslicht zwischen den Hügeln. Geduldig sah man zu, wie die Nacht langsam aus der verbrannten Erde kroch. Die Zypressen unten am Friedhof verwandelten sich in graue Schatten, die Grillen begannen zu singen.
    Vereinzelte Lichter blinkten schwach, eines im Tal beiBenvenuti, zwei, drei in Nidastore. Am Hügelkamm von San Pietro sprangen die Laternen längs der Straße an, und dann, endlich, flammten die vertrauten gelben Lichter im Friedhof auf, alle gleichzeitig, Dutzende kleiner gelber Lichter, die wie Seelenflämmchen im Grau schwebten. Franco Marcantoni begann langsam und schwer Beifall zu klatschen, und alle fielen ein.
    Jetzt brach sich die Nacht unaufhaltsam ihren Weg. Ein tiefschwarzes Meer, aus dem nur die Lichtinseln der Dörfer hervorragten, überflutete das Land. San Vito, Nidastore, San Pietro, Palazzo, Arcevia ..., neunundsiebzig Ortschaften waren von hier aus zu sehen, neunundsiebzig leuchtende Galaxien im Nichts, nur Montesecco blieb dunkel, schwarz, ausgelöscht für die Beobachter, die von den Sterninseln der benachbarten Hügel nach Leben Ausschau hielten.
    Es nützte nicht viel, die Kerzen und Fackeln anzuzünden. Gegen das Gefühl der Weltverlassenheit kamen sie nicht an, ließen nur übergroße blasse Schatten an der Kirchenfassade zittern. An den Rändern der Piazzetta wurde der Kerzenschein bald von der Nacht gefressen, von dem beklemmenden Dunkel, das in den Gassen wallte und sich der Häuser bemächtigt hatte, die ihren Besitzern so fremd geworden waren wie die eigene Zukunft.
    Wer loszog, um Brot und Käse aus seinem Vorratsschrank zu holen, erkannte im Licht der Taschenlampe den vertrauten Tisch, den Stuhl davor, der genau da stand, wo er hingehörte, doch kaum war der Lichtstrahl ein paar Meter weitergewandert, blieb ein vager Verdacht

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