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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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zurück, daß sich gerade in dieser Zehntelsekunde auf unbegreifliche Weise die Stuhlbeine zu winden und schlängeln begannen, daß sich von einem Moment auf den anderen alles ins Fremde, Unbekannte, Bedrohliche verwandelte. Man glaubte ein leises Knistern zu vernehmen, das sofort aufhörte, sobald man auf den Stuhl zurückleuchtete, der wie immer auf festen hölzernen Beinen ruhte. Und währendman noch die eigene Einbildungskraft verfluchte, begann es dort zu schaben und zu rascheln, wo eben noch der Schrank gestanden hatte, aus dem gerade jetzt vielleicht Schuppen und Giftzähne wuchsen.
    Jeder machte, daß er so schnell wie möglich zur Piazzetta zurückkam, und legte wortlos ein Stück Schafskäse oder eine Salami auf einen der Tische. Man zog die Stühle heran, rückte enger zusammen. Die Kinder saßen auf den Schößen ihrer Mütter, schauten dem Wachs zu, das an den Kerzen herablief, und lauschten durch den Gesang der Grillen, der wild und allumfassend wie nie die schwarze Luft erfüllte. Nichts anderes war zu hören, obwohl sich die Sinne schärften, als säße man in grauer Vorzeit ums Lagerfeuer, nur durch den dünnen Lichtschein vor den tödlichen Gefahren geschützt, die überall drohten, vor den Schlangen, die sich von den Dächern aus zuwisperten, die an den Regenrinnen entlangzüngelten und durch offene Fenster in die Wohnhöhlen glitten, wo sie einander umwanden und sich paarten und vermehrten und zu zuckenden Giftteppichen verknüpften.
    Der dunkle Teil Monteseccos war dem Feind in die Hände gefallen, dem feindlichen Fremden im eigenen Kopf. Allein die Piazzetta konnten die Dorfbewohner mit Mühe halten. Sie blickten einander an, überprüften, wer fehlte, wer in dieser schwarzen Nacht nicht in die Sicherheit der Sippe zurückgefunden hatte, Paolo Garzone, Catia, Matteo Vannoni, doch sonst waren sie vollzählig, Krieger, Mütter und Kinder. Sie scharten sich um Franco Marcantoni, der mit seiner Flinte wie ein alter Häuptling unter der Esche thronte, neben seiner Schwester Costanza, der Stammeszauberin, auf deren Macht man vertrauen mußte.
    Sie sahen den Widerschein der Kerzen in den Gesichtern, die sie so gut kannten, und waren entschlossen, ihre Welt mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Sie spürten, daß sie aufeinander angewiesen waren, und mehr dennje begriffen sie, daß das Verbrechen, das am Anfang all dessen gestanden hatte, nicht nur Giorgio Lucarelli, sondern ihnen allen gegolten hatte. Es ging um sie selbst, um ihr Dasein, das war so klar wie der Sternenhimmel in einer Neumondnacht. Sie würden sich wehren. Wenn es nötig war, würden sie Opfer bringen. Und sie würden, wie sie es heute gegenüber den Vipern gehalten hatten, keine Gefangenen machen.
    »Die Schlange ist das Tier des Mondes, der Neugeburt und des kalten Lebens«, sagte Costanza Marcantoni unvermittelt.
    Manch einer schämte sich ein wenig, daß er aus altem Aberglauben heraus die Vipern zu Fabelwesen mit lachhaften Eigenschaften gemacht hatte. Das war genauso falsch, wie in ihnen nur Vertreter der Klasse Reptilien, Ordnung Schuppenkriechtiere, Unterordnung Schlangen, Familie Viperiden zu sehen. Denn die Schlangen da draußen im Schwarz waren Realität und Fiktion zugleich, sie wurden Wahrheit durch die Geschichte, in der sie ihren Platz fanden, und diese Geschichte war eine um Werden und Sein und Sterben.
    Auf einmal war die Angst verflogen, das Schaudern vor Gift und Tod aufgehoben in einer wild entschlossenen Lust auf Leben. Man griff zu den Messern, schnitt sich ein Stück Pecorino Stagionato ab, kaute bedächtig, schmeckte dem Salz und der Zeit darinnen nach, nickte und nippte am Weißwein. Es hätte niemanden gewundert, wenn efeubekränzte Mänaden des Dionysoskults aus dem Dunkel herausgetanzt wären. Es wäre nur natürlich gewesen, wenn sie die Schlangen in ihren Händen lebend verschlungen hätten, denn wenn das Dorf diese Geschichte überlebte, würde sie zum Mythos werden. Und später würde man genau angeben können, wann dieser Mythos geboren wurde: an dem Tag, als Montesecco drei Vipern tötete.
    Vannoni spürte eine Hand, die über sein Gesicht strich.
    »Paolo?« fragte er. Er schlug die Augen auf. Es war Nacht, doch vom Fenster fiel ein schwacher Widerschein künstlichen Lichts ins Zimmer. Von rechts röchelte irgendwer. Links auf Vannonis Bettrand saß irgend jemand anderer.
    »Paolo?« fragte Vannoni erneut.
    »Ich bin es«, sagte eine Mädchenstimme.
    »Catia?« Vannoni richtete den Oberkörper auf.

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