Die Virus-Waffe
Andenken an ihren
Ehemann, der seit mehr als vierzig Jahren tot war. Zu-
sammen mit ihrer gebeugten Haltung und ihrer mächtigen
Hakennase, den großen, dunklen Augen und dem schmal-
lippigen, etwas boshaften Mund, verlieh ihr das ein fast
krähenhaftes Aussehen. Alle kannten sie, aber so gut wie
keiner mochte sie. Sie kannte alle und vergalt Gleiches mit
Gleichem, denn sie konnte ebenfalls fast niemanden lei-
den.
Schon gar nicht Spiros Aristides. Zunächst einmal war
er ein Grieche vom Festland und hatte nie geheiratet, was
ihm bereits zwei Minuspunkte bei Christina einbrachte.
Dann trank er viel zu viel, was dank Christina alle wussten.
Außerdem war sie fest davon überzeugt, dass er etwas Ille-
gales tat, wann immer er mit seinem Boot hinausfuhr.
Damit lag sie richtig, obwohl ihre Lieblingsgeschichten
von Waffenschmuggel und Drogenhandel meilenweit von
der Wahrheit entfernt waren.
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Und erst sein Haus! Neben den anderen weiß getünch-
ten Häusern in der schmalen Gasse wirkte es wie ein
Schandfleck. Die Farbe der Fensterläden war verblichen
und blätterte ab, der winzige Garten war verwildert, und
selbst die Dachziegel sahen schmutzig und vernachlässigt
aus. Sie wandte jedes Mal den Blick ab, wenn sie daran
vorbeiging, und schimpfte leise.
Aber auch wenn sie aus Prinzip nicht hinsah, sperrte sie
ordentlich die Ohren auf, wenn sie vorüberschlurfte. Viel-
leicht konnte sie ja einige Brocken aufschnappen, die sie
dann ausschmücken und den anderen alten Weibern auf
dem Dorfplatz erzählen konnte.
An diesem Morgen wurde sie belohnt. Allerdings nicht
durch einen Gesprächsfetzen, sondern durch ein langes,
schmerzerfülltes Stöhnen, das aus einem der oberen Zim-
mer des Hauses zu kommen schien. Es war so unerwartet,
dass Christina wie angewurzelt stehen blieb, zu dem Fens-
ter hinaufsah und angestrengt lauschte. Das Stöhnen wie-
derholte sich kurz, und dann folgte ihm ein schluchzendes,
blubberndes Geräusch, das beinahe wie ein Versuch klang
zu sprechen.
Sie schüttelte grimmig den Kopf, senkte den Blick und
ging weiter. Sie hatte beinahe den Dorfplatz erreicht, als sie erneut stehen blieb und sich umdrehte. Die ganze Zeit hatte sie über das Geräusch nachgedacht, und jetzt endlich
dämmerte ihr, dass es ein bisschen wie das griechische
Wort »Voithya« geklungen hatte.
Sie schaute die Straße entlang. Nach ihr war niemand an
dem Haus des alten Griechen vorübergekommen, und um
diese Tageszeit würde das vermutlich auch keiner tun.
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War das Geräusch nun ein Hilferuf gewesen oder das
Stöhnen eines Mannes, der am vorigen Abend zu viel ge-
trunken hatte? Nein, dafür hatte es irgendwie zu erstickt
geklungen. Was auch immer mit dem alten Mann nicht
stimmte, es lag sicher nicht nur an seiner Trunkenheit.
Außerdem war das eine großartige Gelegenheit heraus-
zufinden, ob das Aristides-Haus innen genauso abstoßend
war wie außen. Allerdings konnte sie als Witwe unmöglich
allein hineingehen, um nachzusehen, was mit ihm los war.
Es wäre höchst unschicklich und würde eine Menge
Klatsch auslösen. Und das konnte sie auf keinen Fall tole-
rieren.
Sie spitzte ihre dünnen Lippen, marschierte auf den
kleinen Marktplatz und sah sich um. Ihre Freundinnen
Maria und Luisa tratschten hier gewöhnlich morgens vor
einem der kleinen Geschäfte, bevor sie nach Hause gingen
und Mittagessen kochten. Luisa war nirgendwo zu sehen,
aber in diesem Moment bog Maria Coulouris mit ihrem
Einkaufskorb am Arm um die Ecke und wäre fast mit
Christina zusammengestoßen.
»Sehr gut. Komm mit!« Christina packte die jüngere
Frau am Arm.
»Wohin?«
»Zum Haus des alten Griechen. Er könnte im Sterben
liegen«, erklärte Christina genüsslich.
»Was?«
Sie erzählte der jüngeren Frau von den Geräuschen, die
sie vor einigen Minuten gehört hatte.
»Wahrscheinlich ist er einfach nur wieder betrunken«,
wandte Maria ein.
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Christina schüttelte den Kopf. »Das kann sein, aber es
hörte sich irgendwie merkwürdig an. Sicher stimmt ir-
gendwas nicht mit ihm. Er muss was Ernsteres haben.«
Sie gingen zusammen zu Aristides’ Haus, während Ma-
ria vergeblich protestierte. Vor dem Anwesen blieben sie
stehen und lauschten, aber jetzt schien hinter den Fenstern
im Obergeschoss alles ruhig zu sein.
»Wir rufen!«, verkündete Christina. »Aristides!« Ihre
Stimme war überraschend kräftig.
Niemand antwortete. Es war nichts zu hören.
»Vielleicht ist er ja
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