Die Vision
»Sucher des Grünen Löwen‹. Wenn du bitte das Buch aufschlagen würdest, dann zeige ich dir auch, wieso.«
Malachi entfaltete das gewachste Tuch. Darin lag ein altehrwürdig aussehender, ledergebundener Foliant mit schweren Metallschließen, der mit Halbedelsteinen besetzt war. Er schlug das Buch auf, und da stieg mir ein scharfer Geruch nach altem Staub und vergessenen Laboratorien aus den vergilbenden Pergamentseiten in die Nase. Zwischen Zeilen mit verblaßten, unleserlichen Krakeln strahlten die immer noch leuchtenden Farben der wundersamen Illuminationen in altem Glanz.
»Oh!« Es verschlug mir die Sprache, so prächtig war es, so glitzernd und geheimnisvoll. Ich spürte, wie es mich anzog und lockte, so als besäße es ein geheimes Eigenleben.
»Spürst du es?« fragte Bruder Malachi. »Ich auch. Das ist das Buch mit dem Geheimnis der Geheimnisse. Es ist darin enthalten – ich weiß es –, und ich kann, verdammt und zugenäht, kein einziges Wort lesen.« Bruder Malachi hatte die Augen halb geschlossen und war in Träumereien versunken, was ganz und gar nicht seine Art war. »Es verschafft uns Träume. Es formt unser Schicksal«, murmelte er und liebkoste die Seiten, als ob sogar schon die Schrift die Macht hätte, Wärme zu vermitteln. »Da – das Ende meiner Suche. Und auch deiner, Margaret.«
»Aber wenn Ihr es nicht lesen könnt, woher wißt Ihr dann, daß es das Geheimnis der Geheimnisse enthält?«
»Durch die Illuminationen, Margaret. Sie sind der Code. Der Code der Alchimisten. Der Text erläutert ganz offensichtlich die Bilder und gibt Anweisungen, wie man zu den verschiedenen Stadien des Prozesses gelangen kann. Sieh her –« Er schlug aufs Geratewohl eine Seite vorn im Buch auf.
»Bruder Malachi! Das ist überhaupt kein Buch über Alchimie! Das ist ein Buch mit schmutzigen Bildern! Schämt Euch!«
»Nein, nein, Margaret. Ich habe doch schon gesagt, daß es ein Code ist. Das hier ist die mystische Vermählung von Sol und Luna – Sonne und Mond also. Das erkennst du daran, daß sie Kronen tragen. Die Sonne steht für Gold, der Mond für Silber – so wie Mars für Eisen und Merkur für Quecksilber steht. Jeder der sieben Planeten steht für eines der sieben Metalle. Sol muß Luna schwängern, denn nur so erhält man den Stein.«
»Den Stein der Weisen? Das schmutzige Bild hier gibt Euch Anweisungen?«
»Na ja, den Text brauche ich auch. Das Bild ist nicht deutlich genug.«
»Mich dünkt es recht eindeutig. Was ist mit dem da, wo sie nackt im Badezuber liegen und sich umarmen?«
»Das ist kein Badezuber, das ist eine Gruft.«
»Gut, dann bin ich eben darauf hereingefallen. Sie sehen so zufrieden aus, auch wenn sie mit der Krone auf dem Kopf baden.«
»Du solltest genauer hinschauen, Margaret. Der Code versteckt sich in den Einzelheiten. Wieviele Paar Füße siehst du beispielsweise?«
»Oh, wie abscheulich! Sie haben zusammen nur ein Paar. Pfui!«
»Das kommt daher, daß dieses Bild den alchimistischen Tod schildert. Sol und Luna müssen nach der Vermählung beieinander liegen und zusammen sterben, um als ein einziges Wesen aus vermischten Essenzen wiedergeboren zu werden – darum sind sie auch als Hermaphrodit abgebildet; bei näherem Hinsehen erkennst du, daß beide sowohl Mann als Frau sind. Sie müssen vergehen, wenn sie neu geboren werden wollen – der Vogel dort, das ist der Geist. Dann erst gebären sie die geistige Materie, und die gebietet über alle Elemente.«
»Aber da sind noch viel mehr Bilder – was bedeutet das hier?«
»Wenn ich das wüßte, wäre ich dem Geheimnis der Geheimnisse um vieles nähergekommen. Die Jungfrau wird von Schlangen gefressen. Das ist ja das Dumme an dem Code. Er läßt sich schwer entschlüsseln. Also, das hier am Ende, nach dem Pfauenschwanz, das bedeutet die Herstellung des Roten Elixiers oder Pulvers. Hinter dem bin ich her.«
»Elixier? Und ich dachte, es wäre ein Stein.«
»Nur sozusagen. In Wirklichkeit ist es ein rotes Pulver, ein trockenes Wasser. Ich habe andere Bücher, die da eindeutiger sind.«
»Oh, seht nur. Das hier ist ein Drachen.«
»Den Drachen da, den habe ich. Und der frißt tatsächlich Metalle. Ich habe ihn dort drüben in dem Glaskrug. Der würde sich durch alles hindurchfressen.«
»Ist er flüssig?«
»Selbstverständlich. Ich habe dir doch schon gesagt, es handelt sich um einen Code. Der Badezuber, wie du ihn nennst, ist mein Schmelztiegel.«
»Dann steht hier also alles drin? Das Geheimnis der
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