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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Nachmittag bis in die Nacht. Endlich hielt es mich nicht länger. Wieso rannte er nicht durch die Gegend, spuckte große Töne und betrank sich wie die Übrigen?
    Die Sonne wollte schon untergehen, und fast der gesamte Haushalt lag bereits im Bett, da suchte ich ihn in der Kapelle auf. Beim Licht einer einzigen, flackernden Kerze, einem schwachen Ersatz für das schwindende Tageslicht, hatte er sich ganz in seine Schreiberei vertieft. Die Feder in seiner rechten Hand glitt über die Seite, dicht gefolgt von der linken mit dem Messerchen, mit dem er kleine Fehler verbesserte. Wenn ich ihn erschreckte, würde er vielleicht einen Klecks machen, und was seine Schrift angeht, so darf sie bei Gregory nicht anders als mustergültig sein. Wenn er einen Klecks macht, ist er zuweilen stundenlang nicht zu gebrauchen.
    »Margaret?« Er blickte von seiner Schreibarbeit auf. »Was tust du hier?«
    »Das Gleiche wollte ich dich auch fragen«, gab ich zurück. Und als er die Tinte sicher aufbewahrt hatte, stellte ich mich hinter ihn, umschlang ihn mit den Armen und küßte ihn auf den Hals.
    »O Margaret«, sagte er gespielt vorwurfsvoll, »es steht geschrieben, daß Frauen unersättlich sind, und das stimmt. Hast du denn nichts anderes im Sinn?«
    »Doch – ich möchte wissen, warum du alleweil nur schreibst. Schließlich hat der Herzog die Heldentaten, über die du berichten sollst, noch gar nicht vollbracht.«
    »O ja, hat er wohl, und ich muß das Gewesene aufzeichnen, ehe ich über das Kommende schreiben kann.«
    Ich blickte ihm über die Schulter und sah das Geschriebene. Es war in Latein abgefaßt, doch ein paar Worte konnte ich ausmachen. »Aber ich sehe da so etwas wie angeli und Deus und – das da unten sieht wie Adam und Eva aus, und – das da, das sieht aus wie der Turm von Babel.«
    »Also, Margaret, vielleicht ist es doch ein Fehler, Frauen das Lesen zu lehren, wenn man ihnen weiter keine Bildung vermittelt.«
    »Ei, das ist gemein. Warum unternimmst du nichts dagegen und erklärst mir alles?«
    Er seufzte, dann erklärte er mir alles sehr langsam und deutlich, so als wäre ich einfältig oder taub.
    »Alle ordentlichen Chroniken beginnen beim Anfang der Welt, Margaret – deshalb habe ich noch viel zu tun, bis ich den Anschluß an unsere Zeit gefunden habe. Ich hatte gehofft, ich könnte das alles vor meinem Aufbruch fertigstellen, aber hier ist letztens alles so durcheinander gegangen.«
    »Warum schreibst du nicht einfach nur über den Herzog und läßt den Turm von Babel aus?«
    »Margaret, wenn du gebildet wärst, würdest du verstehen, daß eine Chronik, die erst heute beginnt, nichts weiter als eine Klatschgeschichte ist. Es mangelt ihr an Gehalt.« Während wir sprachen, war es im Raum dunkel geworden, und die flackernde Kerze machte aus seinen hübschen Zügen ein Relief, als er jetzt eine dunkle Braue wölbte und sein etwas spöttisches Lächeln lächelte.
    »Es tut mir leid, daß ich so gar nichts von den Klassikern und den ganzen großen Meistern verstehe, so wie du – ich dachte doch bloß, du könntest Zeit sparen.« Ich halte das immer noch für eine gute Idee, ganz gleich was Männer darüber denken.
    »Das sollte man dir nicht übelnehmen, Margaret. Aber Schreiben hat nichts mit gesundem Menschenverstand zu tun, so wie man auf dem Markt Fisch kauft. Das hat etwas damit zu tun, an welche Lehre und Form man sich hält. Es gleicht deiner Idee von damals, daß alles in Englisch geschrieben werden sollte, weil mehr Leute Englisch sprechen als Latein. Durchaus vernünftig, nur daß die Leute, die Englisch sprechen, nicht lesen können, und niemand der lesen kann, achtet ein Werk, das nicht in Latein abgefaßt ist. Und wenn man sich an die gegebene Form hält, vermeidet man dumme Fehler und Peinlichkeiten. Darum sind die Maßstäbe der Zivilisation absolut und universal. Es ist damit wie mit der Wahrheit: Zwei Arten gibt es nicht.«
    Ich finde immer noch, daß meine Idee auch gut war, selbst wenn sie noch ein paar Ecken und Kanten aufwies, die man glätten müßte. Doch das habe ich ihm auch nicht gesagt. Außerdem ist er so hinreißend, wenn er den Schulmeister herauskehrt. Sein Gesicht wird ganz ernst, und seine Augen strahlen, und dann erzählt er einem alles über den Heiligen Augustinus oder über Aristoteles oder irgend jemand, der schon lange Zeit tot ist.
    »Du siehst also«, fuhr er fort, »Latein macht ein Werk gehaltvoller, und das gilt auch, wenn man beim Anfang der Welt anfängt.«
    »Hat

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