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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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von einem der Häfen im Norden nach Canterbury wollten, denn dorthin zieht es alle fremdländischen Pilger. Zwanzig Vorreiter begleiteten den Zug, alle in gleichartige Schuppenpanzer und schwarzsilberne Waffenröcke gekleidet, die ein aufgesticktes Wappen trugen, das niemand kannte. Die Lanzen der beiden ersten hatten schwarze Wimpel mit drei silbernen, eingewirkten Schwänen. Inmitten der Reiter fuhr ein schöner Reisewagen, der einer Königin wohl angestanden wäre, gezogen von vier schwarzen Pferden, auf denen zwei Knaben in der gleichen schwarzen Livree ritten. Die Räder, die Karosserie und die großen Ringe, an denen die teilweise zurückgerollte Lederschutzdecke befestigt war, die jetzt der goldenen Herbstsonne Einlaß gewährte, alles war kunstvoll geschnitzt und mit farbenprächtigen Blumen und Ranken bemalt. Neben dem Wagen ritt auf einem kleinen Braunen ein Dominikaner, der hatte die Kapuze heruntergeschoben, so daß man seine Adlernase und seine Tonsur sehen konnte.
    Doch das Wageninnere bot einen wirklich staunenswerten Anblick. Hinter dem Kutscher und den Knechten saßen auf zwei hohen Bänken vier Frauen, zwei davon auf fremdländische Art sehr elegant in eigenartig geschnittenen Gewändern aus Grau und Schwarz gekleidet, die alle mit etwas gesäumt waren, das aus der Ferne zu glänzen schien und von der Reise kaum eingestaubt war. Ihre hohen Hauben hüpften, und sie plauderten miteinander und schienen ihrer Umgebung auch nicht die geringste Beachtung zu schenken. Doch auf dem Vordersitz saßen die seltsamsten Gestalten der Gesellschaft. Die eine Frau war nach ihrer schlichten Kleidung zu schließen eine Amme und hatte ein kleines, schwarzhaariges, etwa zweijähriges Kind mit einem runden Gesichtchen und in schwarz und silbern bestickten Kleidern auf dem Schoß, so wie ich sie noch nie an einem Kind erblickt hatte. Doch beim Anblick der anderen Frau konnte man vor Staunen Nase und Mund aufsperren. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Schwarz, mit ganz aus Silber gewirkten Schwänen auf dem Busen und einem schwarzen, fremdländischen Kopfputz, von dem ein schwarzer Seidenschleier herabfiel, ihren Kopf und ihre Schultern umgab und noch hinter ihr herwehte. Selbst vom oberen Fenster aus erschien mir ihre Gesichtsfarbe ungewöhnlich. Weiß, so weiß wie Milch gegen all die Schwärze. Und schön. Vollkommen und eingefroren wie das Antlitz einer uralten Statue. Sie hielt sich auf der Bank so gerade wie eine Schwertklinge und blickte nicht nach rechts und nicht nach links. Eine Königin. Sie mußte eine fremdländische Königin sein und die anderen ihre Hofdamen.
    Das durften wir nicht versäumen; wir eilten also nach unten, da wir ihre Ankunft mitbekommen und sehen wollten, wie sie von der neuen Herrin begrüßt wurde. Lady Petronilla verneigte sich tief vor ihr und bot ihr die Gastfreundschaft ihres Hauses an.
    »Willkommen als Gast in Brokesford Manor, edle Dame. Eure Gegenwart ehrt uns. Mein Herr und Gebieter, Sir Hugo de Vilers, ist auf der Jagd, aber er wird bald zurück sein und Euch so begrüßen, wie es Eurem hohen Stand geziemt.« Französisch war nicht gerade Lady Petronillas Stärke. Sie hatte einen starken Akzent und mischte englische Brocken darunter, denn sie war nicht bei Hofe aufgewachsen oder im Ausland oder im Kloster erzogen worden.
    »Sir Hugo de Vilers? Euer Ehemann?« sagte die Dame verbindlich, ohne daß sich an ihrem Ausdruck auch nur das geringste geändert hätte.
    »Ja, wir wurden vergangene Woche vermählt.«
    »Vergangene Woche? Ei, so wenig Zeit.« Ich spürte, wie seltsam ihr gelassener Ton war.
    Als sie aus dem hellen Sonnenschein in den dämmrigen Palas trat, rümpfte sie die Nase. Beim Anblick der Schinkenseiten und des Wildbrets, das bei uns an den Dachsparren im Rauch des Feuers mitten in der großen Halle aufgehängt wird, verdrehte sie die großen, braunen Augen.
    »Englisch«, konnte ich sie leise bei sich in einem Französisch sagen hören, dessen etwas rollenden Akzent ich nicht recht einordnen konnte. Ich stand beinahe hinter ihr, beiseitegedrängt und unbeachtet während dieser kleinen Zeremonie. »Wilde, allesamt«, flüsterte sie, lächelte dabei die Gastgeberin an und zeigte ihre niedlichen, ebenmäßigen, weißen Zähne, die wie bei einem Kleinkind in einem rosa Kiefer saßen. Lady Petronilla zierte sich vor ihr und wirkte neben der dunklen Fremden auf einmal gewöhnlich und grellbunt. Die dunkle Dame machte einen Schritt – und die märchenhaft mit

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