Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Alles was sie fühlte, war Schmerz.
4
D er Diakon kniete vor dem Venus-Altar. Tief senkte er den Kopf. »Rebecca«, murmelte er leise, »was soll ich nur tun?« Er hob seinen Kopf und suchte mit den Augen das steinerne Relief des heidnischen Altars ab, betrachtete sehnsüchtig die gemeißelten Brüste der Liebesgöttin, die ihre Arme geöffnet hielt, bereit, den Liebhaber zu empfangen mit kühlem, beinahe keuschem Blick. »Ich weiß, daß die Liebe eine göttliche Kraft ist, und daß Gott uns die Körper gab, um uns fleischlich miteinander und so mit ihm zu vermählen. Alles andere ist Lüge. Alle Scham ist Frevel an seinem Werk.« Wieder sank sein Haupt auf die Brust.
»Ich habe keine Scham«, erklang eine Stimme vom Eingang des unteridischen Gewölbes her.
Jäh fuhr er herum.
Juliana öffnete langsam ihren Samtmantel und streifte ihn von ihren Schultern. Er fiel zu Boden und enthüllte ihren nackten Leib. Weiß hob er sich von den feuchtschwarzen Wänden ab. Sie schlüpfte aus ihren zierlichen Pantoffeln und glitt auf nackten Sohlen zu dem Knienden. Hochmütig starrte sie auf ihn hinab. »Nun siehst du, was du verschmähst. Einen Engel wie Gott keinen zweiten schuf.«
Der Diakon atmete heftig. Widerwillen und Begehren kämpften in ihm. Juliana löste ihr Haar. Das Gefühl der Macht war köstlicher für sie als das der Wollust. Der Diakon stieß sie heftig von sich fort.
»Nein!« rief er. »Du bist nicht der Mensch, den ich am tiefsten begehre. Du bist nicht die Zwillingsseele, die Gott mir geschickt hat, um mich zu erhöhen. Du bist nur voller Eitelkeit und Laster. Ein Weib, das der Hölle entstieg. Deine Schönheit ist hohles satanisches Blendwerk.« Er spuckte aus und wischte sich den Mund. »Und wäre nur eine einzige himmlische Regung in dir, sie wäre nichts als ein Tropfen Rosenwasser in einer Schale mit Gift!« schleuderte er ihr entgegen.
Juliana erstarrte. Schön war sie wie La bella Simonetta – die blonde Venus von Botticelli. Nichts davon sah der Diakon, und Juliana merkte es, spürte ihre Niederlage.
Sie kämpfte mit den Tränen. Wut, Scham und nie gekannter Schmerz stiegen in ihr hoch. Sie schluckte und reckte stolz das Haupt. »Das, kleiner Diakon, ist dein Tod!« Sie wirbelte herum, lief zu ihrem Mantel, riß ihn hoch und verschwand.
Der Diakon blickte ihr nicht nach, sondern warf sich vor dem Altar auf den Boden, breitete die Arme zur Seite und bildete mit seinem Körper das Kreuz. »Verzeih mir Rebecca. Verzeih. Bald werde ich dir gehören, und du mir. Ich habe der letzten Versuchung widerstanden. Ich bin stärker als der Tod, du wirst mich erlösen, Himmlische.«
Etwa zur gleichen Zeit versammelten sich die aufgeregten Schwestern des Konvents auf dem Gang vor Rebeccas Kammer. Das ferne Dröhnen der Explosion hatte auch die letzte von ihnen geweckt. Ihnen allen schien es nun ein weiteres Zeichen des Unheils zu sein. Eine meinte schlaftrunken, daß der Tag des Jüngsten Gerichts gekommen sei. Einige wimmerten, andere schluchzten hemmungslos, einige standen mit hängenden Schultern vor der Zelle Rebeccas, andere knieten am Fuß der Treppe neben der toten Kornmeisterin und betrachteten schaudernd den blutigen Schriftzug auf ihrer Brust.
JESUS.
Und so wie sie sich in dieser Nacht in zwei Gruppen teilten, so sollten sie am Morgen zwei Gruppen bilden. Die eine würde fest davon überzeugt sein, daß alles, was in der Nacht geschah, von Gott gewirkt war. Die andere – wenn auch in der Minderzahl – würde unverrückbar an der Vermutung festhalten, daß der Leibhaftige im Spiel war: Satan, der Rebecca die Hand gegen die Kornmeisterin geführt hatte. Die Magistra selber lag bewußtlos in ihrer Zelle mit einer Dornenkrone auf ihrem Haupt. War es ein Wunderzeichen des Himmels oder der freche Frevel einer Besessenen? Das blutige Messer, das neben ihr am Boden lag, zeugte für letzteres. Aber wer wollte darüber entscheiden? Die Achtung, die die Schwestern für ihre seherisch begabte Magistra hegten, war groß.
Die Schaffnerin war zufrieden mit ihrem Werk. Die lästige Zeugin war elegant und mühelos beseitigt. Nicht der Schatten eines Verdachtes streifte sie selber. Hingegen war unter den Konventsschwestern der erste Zweifel gegen die Magistra gesät. Rebeccas Ruf war befleckt, und sie – Anna – konnte, wenn van Geldern nur mitspielte, jederzeit den letzten, den vernichtenden Stoß führen. Hätte sie geahnt, wie wundervoll sich die Explosion im Hause des Greven in ihren Plan
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