Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
würde der vornehme Priesterherr von St. Alban im Beisein aller Kanoniker und Stiftsherren höchstselbst das Hochamt feiern. Die Verwaltung seiner zahlreichen Kirchengüter ließ es nur selten zu, daß er seinen Pflichten als Seelsorger nachkam. Ein feierlicher Umgang im Chor der Kirche würde sich der Messe anschließen, sodann die Enthüllung des Altartuchs der Familie van Geldern in der Marienkapelle und dort – in kürzester Form – die Trauung der Tochter Columba im Beisein des Kirchenvorstandes und der Gemeinde. Sogar der Bürgermeister wurde erwartet. Als Kunstfreund war Konstantin von Lyskirchen begierig, die neue Stiftung des Kaufherrn zu sehen.
Heute blieb es noch einmal die Aufgabe des Diakons, die öffentliche Messe nach den Morgengebeten zu feiern und den letzten Aufruf vor der Hochzeit zu tun.
Im Hause van Gelderns legte man mit größter Sorgfalt festliche Kleidung an. Es war früh am Morgen, ein letztes Mal wurde Columba der Prozedur des Hautbleichens unterzogen, obwohl sich das Rezept Melinas in ihrem Fall als wenig erfolgreich erwiesen hatte.
»Haltet still!« schimpfte Mertgin, als ihr Schützling von dem Sessel vor dem Spiegeltisch gleiten wollte. »Ich habe genug von diesem eitlen Unsinn«, gab Columba wütend zurück, und beinahe freute Mertgin sich über diesen Temperamentsausbruch. Das Mädchen war ihr beängstigend still erschienen in den letzten Tagen, und das nicht nur wegen des Unglücks, das den Kaufmann getroffen hatte. Sie ließ Columba schließlich ihren Willen und reichte ihr sogar ein Leintuch, um das Bleichmittel aus dem Gesicht zu wischen. Heftig rieb sich Columba die Haut, bis sie rosig glänzte.
»Geh hinab«, wies sie danach Mertgin an, »und frage, ob es eine Nachricht oder einen Brief für mich gibt.«
Mertgin seufzte. »Was habt Ihr nur seit Tagen mit den vermaledeiten Briefen? Wer sollte Euch schreiben? Euer Verlobter ist im Hause, keiner Eurer Freunde weilt außerhalb der Stadt. Die Glückwünsche zur Verlobung sind längst alle eingetroffen.«
»Sei still!« fuhr Columba sie an. »Ich sah eben einen Boten in den Hof einreiten, sein Felleisen war gut gefüllt, also lauf und frage nach, was er abgeliefert hat.«
Mertgin raffte widerwillig die Röcke und ging zur Tür. Sie kramte nach ihrem Schlüsselbund.
»Und frage nicht beim Vater«, warnte Columba.
Mertgin ließ den Schlüssel sinken. Forschend schaute sie das Mädchen an. »Was habt Ihr vor dem Kaufherrn zu verbergen?«
»Es geht dich nichts an.«
»Sehr wohl geht es mich etwas an«, erwiderte Mertgin scharf, »ich will mir nicht ein weiteres Mal vorwerfen lassen, daß ich nicht genügend auf dich acht gab.« Trotzig reckte sie das Kinn vor, Columba verlegte sich aufs Schmeicheln.
»Liebste, beste Mertgin, tu mir nur noch dieses Mal den Gefallen. Ich verspreche dir, daß ich nach meiner Hochzeit alles tun werde, was mein Gatte von mir verlangt, wenn du nur nachschaust, ob ein Brief für mich abgegeben wurde. Ist keiner da, dann will ich mich allem fügen.«
Ihre Worte beruhigten Mertgin nicht. Im Gegenteil. »Was für ein Brief kann das sein, von dem Ihr so sehr Euer Schicksal abhängig macht?« fragte sie mißtrauisch.
»Eine Nachricht meiner Tante Rebecca«, log Columba, »du weißt, sie hat seherische Gaben, und ich möchte ihre Zustimmung zu meiner Heirat. Sie versprach, mich zu benachrichtigen, falls sie eine Vision hat.«
Mertgin runzelte ungläubig die Stirn. »Ihr redet Unsinn, und ihr wißt es. Rebecca ist seit Wochen krank, zu schwach – so scheint mir – um eine Botschaft zu schicken. Zu schwach, um sich gegen ihre Stellvertreterin, diese elende Schaffnerin, durchzusetzen, die hier im Hause ein- und ausgeht als gehöre sie zur Familie. Sogar zu Eurer Hochzeit ist sie geladen. Ich verstehe nicht, was der Kaufherr an ihr findet!« Columba hatte einen Einfall. »Ihr habt ganz recht«, sagte sie mit großem Ernst, »eben darum warte ich auf einen Brief meiner Tante. Sie hat versprochen, mir noch vor der Heirat zu schreiben. Vielleicht will sie mir mitteilen, was es mit dieser Anna auf sich hat. Eben darum sollst du auch nicht bei meinem Vater nach dem Brief fragen, er könnte ihn mir vorenthalten wollen. Rebecca kann niemandem außer mir in diesem Hause vertrauen.«
Mertgin zögerte kurz, dann steckte sie den Schlüssel ins Schloß. »Also gut, ich werde in der Vorhalle nachsehen. Euer Vater ist noch im Bade, man wird die Briefe unten abgelegt haben, damit die Schreiber sie sortieren, bevor
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