Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
bis zum letzten Mal die Orgel einsetzte und der Diakon feierlich der Sakristei zustrebte.
Auf dem Weg dahin streifte sein Rock die Schulter Julianas, die rasch einen Blick zu ihm hinaufwarf, doch er schien sie nicht wahrzunehmen. Columbas Torheit war für Juliana vergessen. Der Zorn über die Kälte des Diakons brannte heißer.
»Steh auf«, flüsterte nun der Vater befehlend, »geh zu deiner Schwester und bring sie ins Haus. Sie soll nicht länger Gegenstand der Gaffer sein. Ich kümmere mich um den Freiherrn.«
Der lag mehr als er saß in seinem Chorstuhl, klammerte sich an einen geschnitzten Dämon und rang noch immer nach Atem. Sein Gesicht hatte eine leicht bläuliche Farbe angenommen. Trotzdem war er kräftig genug, um dem Kaufherrn, als dieser ihn endlich hochgezogen hatte, mitzuteilen, daß er die versprochene Mitgift nach wie vor als die seine betrachte. »So will es das Gesetz, wie Ihr wißt! Wenn nicht noch mehr«, keuchte er. »Diese Schande, diese öffentliche Demütigung wird sich kaum durch ein Schmerzensgeld tilgen lassen, trotzdem ...«
»Kommt ins Haus und trinkt ein Glas Wein«, schnitt ihm der Kaufmann das Wort ab, »dabei läßt sich alles leichter bereden.« Er zog den Freiherrn zur Treppe hinüber, die zum Triforium und der Hauskapelle führte und an deren Fuß Anna wartete. Keck war ihr Blick, vielleicht sogar eine Spur frecher als sonst. Der Kaufherr wollte sie zur Seite schieben, während er den Freiherrn auf die Treppe drängte.
Die Schaffnerin behauptete ihren Platz. »Auf ein Wort«, zischte sie.
»Schweig!« herrschte Arndt van Geldern sie an. Anna gab nicht nach.
»Ihr wollt doch nicht wirklich, daß Columba in den Konvent eintritt?«
Bei dem Wort Columba wandte der Freiherr sich wieder um. Van Geldern knurrte ärgerlich. »Ich weiß einen Weg, wie Ihr Eure Tochter zurückbekommt.« Sie warf einen raschen Blick auf den Freiherrn. »Schließlich wäre es schade um die Mitgift«, flüsterte sie.
Der Kaufherr zögerte kurz. »Nun gut. Ich treffe dich am Nachmittag nach der Vesper hier im Umgang.« Er wandte sich ab und erklomm, den Freiherrn vor sich her treibend, die Stufen.
Anna lächelte, dann sah sie sich um. Das Kirchenschiff leerte sich allmählich, sie wartete ab und machte sich dann auf den Weg in die Sakristei. Sie wußte, daß der Diakon sie sehnsüchtig erwartete.
5
T ringin hatte es gewagt und war dafür belohnt worden. Einer Eingebung folgend, war sie noch in der Nacht des Überfalls zum Wirtshaus gelaufen. Stille hatte über dem Hof gelegen, nachdem die Haudegen den Kutscher und ihren Hauptmann ohne Zimperlichkeiten im Feld verscharrt und dessen Dahinscheiden mit einigen Kannen Wein und wenigen Tränen begossen hatten. Schnarchend lagen sie im Stroh der Scheune, im eintrocknenden Blut des Kameraden. Am folgenden Morgen würden sie einen Boten losschicken, um dem Kaufherrn den Erfolg ihrer Mission zu vermelden. Es war unnötig, noch nach dem geflohenen Mann zu suchen, der war mit Sicherheit hinüber, der Schuß hatte gesessen, in dem zusammengesackten Reiter hatte kein Funken Leben mehr gesteckt.
War die Botschaft erst abgeschickt, dann wäre das Pulver auf dem Karren ihres und damit ein großer Batzen Geld. Auf dem Markt zu Antwerpen würde es eine stattliche Summe bringen, weit mehr als die versprochene Entlohnung durch den Kaufherrn. Alles in allem also waren die drei Söldner dem Schicksal dankbar, und so zufrieden, wie es Landsknechte ohne Krieg, Brandschatzung und Plünderung nur sein konnten.
Tringin hatte mit klopfendem Herzen den Wirt vor seinem Haus entdeckt. Eine Laterne stand neben ihm, er hielt vorsichtshalber Wache, besorgt darüber, daß die schnarchenden Söldner seinen Weinkeller weiter plündern würden.
»Wer da?« hatte er mißtrauisch gerufen, und Tringin hatte, allen Mut zusammennehmend, mit der Grußformel der Wiedertäufer geantwortet. Der Erfolg war vollkommen gewesen, denn der Wirt erwiderte den Gruß.
Das war nun einige Tage her. Jetzt saß sie in einem finsteren Kellergeschoß, dessen kleine Fenster zum Hof gegen die Blicke Neugieriger dicht verschlossen waren. Man erstickte fast in der schlechten Luft, und Tringin warf einen besorgten Blick auf den bleichen Mann, der neben ihr auf einem Strohsack lag und unruhig schlief. Zwei Knechte hatten ihn im Schutz der Dunkelheit hierhergetragen. Mit Messerschnitten hatte der Barbier des nahen Dorfes Lazarus’ Wunde geöffnet und hineingegriffen, um die Kugel zu entfernen. Die Wunde hatte er
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