Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Messe gilt es, ein neues Altartuch in der Marienkapelle zu segnen.«
»Der Kaufherr van Geldern stiftete es, nicht wahr?« erkundigte sich der Priesterherr. »Recht ordentlich«, wiederholte der oberste Hirte, »wenngleich wir eine Spende für den Guß einer Preciosa besser gebrauchen könnten, mir scheint der Klang der alten Glocke ein wenig matt und dumpf.«
Der Meßdiener reichte ihm die Stola, der Priester küßte sie, legte sie um und trat aus der Sakristei. Die Orgel rauschte auf, die Messe nahm ihren vorgeschriebenen Gang.
In der Marienkapelle verfolgte van Geldern ungeduldig das Zeremoniell. Es hätte ein außergewöhnlich guter Morgen sein können, die Steine plagten ihn ausnahmsweise nicht, und die Schaffnerin hatte eine entscheidende Wende in der Sache Columbas versprochen, doch ihn verärgerte das zimperliche Verhalten seiner ältesten Tochter. Bleich und zitternd stand Juliana neben ihm, dunkle Ringe um die Augen. Sie war für ihre Verhältnisse höchst nachlässig gekleidet, so als sei es in großer Hast geschehen. Immer wieder rutschte der Spitzenschleier von ihrem Haar, und ihre Magd Melina, die häßliche rote Striemen auf den Wangen trug, tat nichts, um den Schleier wieder zu richten.
Juliana verpaßte die Momente, in denen sie zu knien hatte, sang die falschen Texte zu den Liedern, ließ immer wieder das Gebetbuch fallen, das, zu allem Überfluß, der Freiherr jedesmal mit äffischer Eilfertigkeit aufhob. Kopfschüttelnd wandte sich der Kaufherr dem Marienaltar zu, wo unter einem einfachen Leinentuch seine Stiftergabe auf die Enthüllung wartete.
Der Priesterherr stand, beleuchtet vom Bunt der Bogenfenster, hinter dem Altar und machte sich zum Opfer bereit. Rot leuchteten seine Handschuhe. Er nahm die Patene mit dem Brot und den Kelch mit dem Wein, sprach die liturgische Formel. Endlich hob er die Hostie. Nach der Elevation kniete er sich zum stillen Gebet, sprach das Paternoster und brach die Hostie über dem Kelch, zum Zeichen und Gedächtnis, daß Christi Leib in der Passion zerbrochen und die Seele vom Leib durch den Tod gesondert wurde. Dann kommunizierte er in der Gestalt des Brotes und des Weines.
Wie immer beeindruckt von der Feierlichkeit des Aktes seufzten die Frommen und senkten die Sünder den Blick. Van Gelderns Tochter Juliana aber drohte plötzlich in Ohnmacht zu sinken. Der lästige Freiherr sprang im letzten Moment herbei, um die junge Frau aufzufangen, wobei seine Arme unnötig lange auf der Taille Julianas verweilten.
Arndt van Geldern strafte den vorwitzigen Kerl mit drohenden Blicken, doch dann zwang ihn der Beginn des feierlichen Umgangs im Chor, eine friedfertige Miene zu machen.
Begleitet von Meßdienern in weißen Chorhemden, die eifrig die Weihrauchfäßchen schwenkten, hatte sich der Priesterherr auf den Weg gemacht. Ihm folgten ehrwürdige Kanoniker und Kanonissen in schwarzseidenen Chormänteln, dann die vornehmsten Bürger des Viertels, darunter Doktor Birckmann, außerdem Bürgermeister Konstantin von Lyskirchen in roter und schwarzer Festtagstracht. Der Zug endete bei der Marienkapelle. Der Priesterherr kniete vor dem dortigen Altar nieder, schlug das Kreuz, verehrte die Madonna. Dann wandte er sich der Familie van Geldern zu, neigte herablassend das Haupt und kündigte feierlich die Stiftergabe an.
Ein Tuscheln und Raunen erhob sich, halb beifällig, halb abfällig, denn es gab durchaus Nachbarn, die dem Kaufherrn die Ehre einer persönlichen Ansprache durch den Priesterherrn mißgönnten. Nur sein Geld, so maulten einige, nicht sein vorbildlicher Glaube verschafften ihm diese Ehre.
Der oberste Kirchenherr von St. Alban wies nun zwei Meßdiener an, rechts und links von dem Tuch Aufstellung zu nehmen. Man reichte ihm Wedel und Weihwasser, er begann, ein Mariengebet zu sprechen, in das die anderen Teilnehmer der kurzen Prozession und die Familie van Geldern einstimmten. Julianas Stimme war so schwach, daß ihr Vater eine weitere Ohnmacht befürchtete und abgelenkt war, als endlich das Altartuch enthüllt wurde.
»Allmächtiger!« Der schrille Ausruf des Freiherrn ließ ihn auffahren. Er wirkte wie ein Signal, auf das hin alle anderen Anwesenden in Schreckenslaute und Äußerungen des Entsetzens ausbrachen.
Langsam wandte van Geldern seine Blicke zu dem Tuch und betrachtete mit kältestem Zorn die maßlosen Teufeleien. Nein, das war ein anderes Tuch als das, welches er bestellt und zuletzt vor einigen Wochen in der Webstube des Konvents begutachtet und für
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