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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Wertheim
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befeuchtete seine trockenen Lippen mit der Zunge. Durst verbrannte seine Kehle. Er stöhnte kurz auf und weckte seine treue Pflegerin dabei. Rasch wischte Tringin sich den Schlaf aus den Augen, griff nach einem Holzbecher, hob mit dem Arm sanft seinen Kopf und flößte ihm etwas Essigwasser ein. Mit leichtem Widerwillen schluckte der Patient die saure Flüssigkeit.
    Beruhigend sprach Tringin auf ihn ein. »Eine kleine Weile noch, Lazarus, dann wirst du wieder süßen Wein genießen können. Der Feldscher sagt, daß der Essig gut für dich ist, er ließe dich freier atmen und töte die giftigen Säfte, die noch in deiner Wunde stehen. Nimm noch einen Schluck.«
    Lazarus gehorchte, dann ließ er seinen Kopf wieder in die Kissen sinken. Wenig später fühlte er sich kräftig genug, um zu sprechen.
    »Was ist geschehen? Ich erinnere mich nur an den dunklen Keller, in dem ich zuletzt lag. Weshalb nun dieses weiße, weiche Bett, diese geräumige Kammer, das Feuer? Wie hast du das vollbracht?«
    Tringin lächelte gähnend. »Danke nicht mir. Danke dem spanischen Feldhauptmann, der uns im Keller entdeckte.«
    »Ein Spanier?« fragte Lazarus verwundert.
    »Nun, nicht ganz. Er sagt, er ist im Rheinischen geboren. Ich hörte, wie seine Landsleute ihn mit Melchior ansprachen, ansonsten nennt er sich Don Seraph di ...«
    »Saragossa!« rief Lazarus überrascht und zutiefst erfreut aus. »Mein guter, alter Don Seraph.« Pfeifend holte er Atem, mußte husten und Tringin legte ihm besorgt ihre Hand auf die Brust. Lazarus wischte sie ungeduldig beiseite.
    »Laß nur, Mädchen, die Freude wird mich nicht umbringen. Was für ein Glücksstreich des Schicksals! Ausgerechnet unsere Wege kreuzen sich an diesem elenden Ort. Du brauchst mir nichts mehr zu erklären. Don Seraph ist der gütigste Mensch, den ich mir denken kann. Ach was, du mußt es bereits wissen, da er dich unter seinen Schutz gestellt hat.«
    Tringin nickte. »Ja, du hast recht, er ist mir und meinem Vater wohlgesonnen, obwohl er hier ist, um Truppen auszuheben, die gegen die religiösen Rebellen in den Niederlanden vorgehen sollen. Der Wirt spricht von nichts anderem als der spanischen Furie, die kommen wird, um das Licht der Sonne für immer zu verdunkeln. Es heißt, daß einige der Statthalter unter Führung Wilhelm von Oraniens eine Erhebung gegen König Philipp planen, und überall werben Heckenprediger für Calvins Gottesstaat auf Erden ...«
    Lazarus seufzte. »Sprich mir nicht von diesem elenden Gezänk, es ist mir zuwider. All das habe ich schon einmal erlebt und weiß, daß es zu nichts Gutem führt.«
    »Der Hauptmann sagte, daß du zu den tapfersten Soldaten gehörtest, die jemals unter seinem Fähnlein kämpften. Er erzählte von deinem Mut, deiner Todesverachtung, von ...«
    Unwillig drehte Lazarus ihr den Kopf zu, sein grimmiger Blick brachte sie zum Schweigen. »Ich mag nicht mehr an diese Zeit denken. Ich war hochmütig in meinem Gefühl, selbstherrlich und arrogant. Die guten Eigenschaften, die man mir zugesteht, gründeten auf nichts als den eitelsten Gefühlen. In meiner Trauer um den Vater hielt ich mich für großartig und todesmutig. Ich verachtete das Leben. Ich weiß es, seit ich Columba kenne. Sie war mir zunächst ein Spiegel meiner selbst. Ihr Ungestüm, ihre Selbstbegeisterung, ich kannte es alles von mir. Aber sie hatte etwas, das ich längst verloren habe.«
    Tringin schüttelte den Kopf. »Klage dich nicht so hart an. Deine Liebe zu den Menschen, so sagte Don Seraph, war immer ungebrochen. Darin kann Columba dich nicht übertroffen haben.«
    »Eine abstrakte, leere Liebe, von der du sprichst, ein hohles Ideal, das keinen Menschen wärmt. Mir fehlte, was Columba im Übermaß besitzt. Die Alchimisten nennen es viriditas.« Tringin schaute ihn fragend an. »Es ist der unschuldige Durchbruch des Seins, die ungetrübte Lebensfreude, ein Stück Leben im Reinzustand. Das höchste Glück, das wir Menschen zu empfinden imstande sind, und vielleicht unser göttlichster Teil. Nie freveln wir, wenn wir uns in diesem Zustand befinden, nichts außer der Freude des Gebens, der Mitteilung dieser reinsten Lust am Dasein kann dieses Glück erhöhen. Columba gab mir den Glauben an das Leben zurück. Jede Religion gäbe ich mit Freuden dafür hin.«
    Tringin senkte betroffen den Blick. »Das klingt bei weitem ketzerischer als alles, was man sich von uns Wiedertäufern erzählt«, sagte sie endlich. »Es klingt nach einer Religion ohne Gesetze und ohne Gebote, es

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