Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Närrin, warum hast du nicht mehr getan, um sie davon abzuhalten?«
Columba hob den Kopf und schaute die Schaffnerin müde an. »Du sahst selbst, wie entschlossen sie war. Ich habe alle Überzeugungskraft verwendet, aber sie will es so. Sie drängt darauf, daß ihr Fall, wie sie sagt, untersucht wird.«
»Sich selber anzuzeigen für eine Tat, die sie nicht beging. Nicht begangen haben kann.« Neu aufflammende Wut ließ ihre Stimme erneut schrill werden. »Wer lag in dem Bett?« wollte sie wissen.
Columba schwieg.
»Es ist gleichgültig. Rebecca sagt, der Herr will, daß sie Buße tut für den Tod des Diakons.«
»Verflucht«, stieß die Schaffnerin ärgerlich hervor, »verflucht, alles ist verloren.«
Erstaunt sah das Mädchen sie an. Konnte es sein, daß diese neidische, boshafte Person tatsächlich so besorgt und bekümmert über das Schicksal ihrer Magistra war?
»Rebecca vertraut darauf, daß die Gerechtigkeit siegt«, sagte sie um einen tröstenden Ton bemüht.
»Gerechtigkeit!« Die Schaffnerin spuckte das Wort fast aus. »Niemandem widerfährt im Keller des Greven Gerechtigkeit.«
»Schrei nicht so«, warnte Columba verärgert, »sonst wirst du selbst in kürzester Zeit eben dort landen. Was du sagst, ist Blasphemie. Komm ins Haus.«
»Nichts dergleichen werde ich tun. Ich werde deinen Vater suchen, er muß eingreifen. Es ist keine Zeit zu verlieren. Verfluchte Rebecca, verfluchte Törin, alles macht sie mir zunichte!«
Verwundert starrte Columba der Begine nach, die ihre Röcke schürzte und in Richtung des St. Alban-Viertels davonrannte. Was nur trieb diese Frau um? Mitgefühl schien es trotz allem nicht zu sein. Und was glaubte sie beim Kaufmann erreichen zu können? Nie, niemals würde Rebecca sich von ihrem Schwager von dem einmal gemachten Entschluß abbringen lassen. Nein, Columba schüttelte den Kopf, nein, vom Vater war keine Hilfe zu erwarten. Schon gar nicht, wenn es darum ging, am Ende seine geliebte Tochter Juliana anzuklagen. Elende Juliana.
Noch einmal rief Columba die Bilder der Nacht wach. Szenen voller Widersprüche. Das Geschrei Annas hatte den Konvent geweckt, mit Rebecca war sie aus der Kammer gestürzt und hatte als erste die Zelle ihrer Tante erreicht. Anna hatte auf der Schwelle gestanden, eine Kerze in der Hand, die mit gespenstischem Flackern ein grausames Bild beleuchtete: Der Diakon lag nackt in seinem eigenen Blut vor dem Bett der Tante, in dem sich eine wimmernde Gestalt zusammengekauert in die grobe Decke gehüllt hatte.
Energisch hatte Rebecca die Schaffnerin zur Seite gestoßen, die beim Anblick ihrer Herrin so plötzlich verstummt war, als habe der Schlag sie getroffen. Man hätte meinen können, sie sähe ein Gespenst. Der Kerzenhalter war ihrer Hand entglitten, das Wachslicht über den Boden gekollert und im Blut des Predigers verloschen. Finsternis hatte die Leiche des Diakons umhüllt.
Andere Schwestern eilten herbei, drängten sich vor der Tür. Columba hatte sie zurückgehalten und Ruhe befohlen. Dann war sie – an Anna vorbei – in die Kammer geschlüpft und hatte die Tür so fest zugeschlagen, daß alle Gaffer davor zurückprallten.
»Kind, was hast du getan?« flüsterte in ihrer Erinnerung Rebecca noch einmal. Columba hatte nichts als Dunkelheit gesehen und doch gewußt, daß die Tante nicht mit ihr sprach.
»Ich habe den getötet, den ich geliebt habe.«
Columba war erstarrt. Juliana! Sie hatte die Stimme der Schwester deutlich erkannt, doch was sie sagte, schien keinen Sinn zu haben. »Er hat immer gepredigt, das mache mich zu einem Engel, zu seiner Gemahlin, zur Fürstin unserer Versammlung. Das Hohe Paar. Er hat immer gesagt, daß ... O Gott, ich habe es getan ... ich habe es wirklich getan ... Überall Blut. An meinen Händen, es ist noch ganz warm ... Verzeih mir, verzeih.«
»Es ist gut, mein Kind«, hatte Rebecca in die Stille hinein gesagt, »er war ein verdorbener Mann. Und daran, was hier geschah, habe ich Schuld, ich allein.«
»Tante!« hatte Columba entsetzt aufgeschrien.
»Still. Gehe du hinaus und sage den Schwestern, sie sollen sich im Gebetsraum versammeln.«
»Aber ...«
»Spute dich, bevor sie argwöhnen, daß wir nicht alleine hier sind. Ich muß deine Schwester durch den Garten hinausbringen. Niemand darf sie sehen, hörst du. Geh schon.«
Wie betäubt hatte Columba der Tante gehorcht, nicht ahnend, daß schon in diesem Moment Rebeccas Entschluß festgestanden hatte. Der Entschluß, sich endgültig dem hohen geistlichen
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