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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Wertheim
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Gericht auszuliefern.
    Bei diesem Gedanken seufzte Columba jetzt laut auf. Mit langsamen Schritten überquerte sie den Hof des stillen Konvents, der für einen kurzen Moment von der milden Frühjahrssonne, die durch die Wolken brach, in friedlichen Glanz getaucht wurde. Glockengeläut hob an und kündete vom Ende der ersten Morgenmessen. Noch immer saßen die anderen Schwestern im Gebetssaal und taten, was die bleiche Rebecca ihnen befohlen hatte: Sie hielten stille Andacht. Columba verharrte auf der Schwelle zum Haupthaus. Regen setzte ein.
    »Das also«, sagte sie zu sich selbst, »das war Julianas Geheimnis. Der Diakon, wie abscheulich.« Keinen Augenblick zweifelte sie daran, daß alles als ein eitles Spiel begonnen hatte, die Tändelei einer gelangweilten, verwöhnten Puppe, die es gewohnt war, daß jede ihrer noch so törichten Begierden und jeder ihrer Wünsche erfüllt wurden. Eine verblendete Schönheit, die immer und überall den vornehmsten Platz einnehmen wollte, sogar in einer Sekte der Engel.
    Vielfältig waren die Sekten und Kongregationen, Bruderschaften und Geheimzirkel in jenen Tagen der religiösen Verwirrung und Zersplitterung. Alle experimentierten mit der göttlichen Offenbarung. Die einen suchten ihr Heil in der Alchimie, die anderen im Studium apokrypher Schriften, die nächsten in halb heidnischen Riten, sogar in Satansbeschwörungen oder eben in Engelssekten. Aber ausgerechnet die eigene Schwester? Wie fremd sie ihr war. Und doch hatte Columba in Rebeccas Sinne gehandelt, weil auch sie die Rettung Julianas wollte. Trotz deren entsetzlicher Tat. Ein kaltblütiger Dolchstoß mitten ins Herz des wehrlosen Mannes. Sie hatte die Wunde gefühlt, als sie die Decke über dem Leichnam ausgebreitet hatte.
    Schaudernd blickte sie an der Hausfront empor. Noch immer lag der Tote in Rebeccas Kammer. Rebeccas Kammer! Auch dieses Rätsel verwirrte Columba. Was hatte der Diakon dort nur des Nachts zu suchen gehabt? Und welche Schuld hatte die Tante nun tatsächlich auf sich geladen? Konnte es sein, daß sie und der Diakon, der ganz ohne Zweifel ein Ketzer gewesen war, daß Rebecca und er ...
    »Nein«, sagte Columba laut und entschieden. »Nein!« Dann ging sie langsam ins Haus und schloß die Tür. Einem Hagelschauer gleich stieß eine Schar Tauben in den Hof hinab, um enttäuscht festzustellen, daß an diesem Morgen niemand an sie gedacht hatte.
    3
    D er März ging zu Ende und mit ihm der dauernde Regen. Freundlich begann der April, und die Gemüsebauern schöpften Hoffnung auf einen noch freundlicheren Mai. An der Börse wurde eifrig spekuliert. Seit das Gerücht ging, der neue Papst Pius habe König Philipp fünfhunderttausend Dukaten als Finanzierungshilfe für den Kreuzzug gegen alle Ungläubigen gewährt, falls dieser in den Niederlanden einmarschiere, stieg der Wert spanischer Kriegsanleihen. Reiche Flüchtlinge aus Flandern und Brabant, wo Abtrünnige predigten und Philipps Soldaten bereits aufmarschierten, brachten schon jetzt Geld in die Stadt, belebten den Handel und das Handwerk. Neue Gesetze gegen die neuen Religionen wurden erlassen und vom Rat so milde wie möglich gegen die gewinnbringenden Fremden und so hart wie nötig gegen unbequeme, arme Gotteslästerer – wie die leidigen Wiedertäufer – angewandt.
    Auch der Kaufherr van Geldern war guter Stimmung. Krisen belebten ihn. Wenn seine Tatkraft gefordert war, vergaß er jeden körperlichen Schmerz und vermied alles schädliche Grübeln. Zudem war das Glück ihm hold. Aus London war ein Teil jener Summe eingetroffen, um die er solange vergeblich gekämpft hatte. Es schien, daß die jungfräuliche Königin Elisabeth bei ihren Merchants darauf gedrängt hatte, ihre Schulden bei ausländischen Kaufherren zu begleichen. Sie wollte sicher sein, daß die wohlhabenden Geldsäcke aus Flandern oder dem Deutschen Reich ihr gewogen blieben, wenn Philipp in den Niederlanden einmarschieren und sie somit zwingen würde, Geld in ganz Europa zu leihen, um selbst Truppen zu werben, denn Philipp auf der anderen Seite des Kanals bedeutete eine ernsthafte Bedrohung für ihr protestantisches Königreich.
    So brachten die Wechselspiele der Religionswirren und der Weltpolitik dem Kölner Kaufmann van Geldern sein Geld zurück. Zwar war es schlechtes Geld, zehntausend Dukaten, alle am Rand beschnitten und geschliffen, doch die Summe genügte ihm, um sich Luft und damit Zeit zu verschaffen.
    Es galt an mehreren Fronten zu kämpfen: Der Prozeß gegen Rebecca mußte

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