Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Herrin sie geschlagen und bewußtlos am Boden hatte liegen lassen. Der Diakon war tot, soviel stand fest. Rebecca saß im Kerker. Doch die verzehrende Reue einer Sünderin legte Juliana an den Tag. Melina war sich sicher, daß ihre Ahnungen der Wahrheit sehr nahe kamen.
»Soll ich Euch kämmen?« fragte sie mit jener ton- und ausdruckslosen Stimme, die sie sich seit dem Vorfall angewöhnt hatte.
Juliana schien sie nicht zu hören, sondern rieb sich weiter die Hände in einer Schüssel mit Bleichmittel, das sonst nur der Pflege ihres Gesichts gedient hatte, sogar Schenkel und Brüste bestrich sie damit. Nachlässig lag ein seidener Morgenmantel um ihre Schultern, in zerzausten Strähnen hing ihr blondes Haar herab.
»Herrin?« fragte Melina ein zweites Mal.
Juliana warf ihr einen verwirrten Blick zu, dann murmelte sie: »Er straft mich. Er straft mich grausam. Jede Nacht erscheint er mir. Er will mich zu sich hinabziehen.«
Melinas Mund verzog sich zu einem leisen, verächtlichen Lächeln. »Er will meinen Untergang«, erklärte Juliana voller Ernst ihrem Spiegelbild, »seine Liebe ist mein Tod.«
»Von wem sprecht Ihr?« fragte Melina mit harter Stimme.
Juliana schüttelte den Kopf. »Nichts, es ist nichts, laß mich.«
»Ihr müßt etwas essen, Herrin, es ist schon spät am Vormittag. Nehmt wenigstens etwas von dem Gerstenbrei. Ihr müßt bei Kräften bleiben.«
Juliana lachte schrill auf. »O ja, bei Kräften, um dies Ungeheuer zu nähren, dieses ...« Sie brach ab.
»Ihr müßt sehr hungrig sein.« Diesmal hatte Melinas Stimme den Unterton boshafter Genugtuung. Lauernd betrachtete sie die blonde Frau im seidenen Morgengewand, tastete mit den Blicken die schwellenden Brüste ab. Bald würde sie es genau wissen und genau sehen, wie alle Welt.
»Wenn ich nur Rebecca besuchen könnte«, flüsterte Juliana, »sie kennt sich aus, sie wüßte Hilfe, ein Mittel.«
»Euer Vater will von so einem Besuch nichts wissen.«
Melina begann das Gespräch mit ihrer Herrin zu genießen – ein Gefühl, das sie nie zuvor gekannt hatte.
Juliana schien aus ihrer Verwirrung zu erwachen. Müde schaute sie ihre Magd an. »Ich sehe, du triumphierst.« Sie tastete auf dem Tisch nach der Bürste.
Melina sah es und straffte die Schultern. »Schlagt mich nur, Herrin. Es wird Euch nichts nützen. Ihr seid verloren, genau wie ich verloren wäre, wenn ich mich in Eurem Zustand befände.«
»Du wagst es, dich mit mir zu vergleichen?«
»Alle Welt wird es tun, wenn die Saat aufgeht, die Ihr im Schoß tragt. In diesem Falle teilen wir das Schicksal aller Weiber, gleichgültig welchen Standes wir sind.«
Kraftlos ließ Juliana die Bürste fallen. »Schweig, bitte schweig. Du weißt nicht, was du sprichst«, sagte sie matt.
»Ich weiß, daß Eure geheimen Leibtücher rein und weiß bleiben, obwohl der Mond schon einmal voll geworden ist und eben wechselte.«
Mit kaltem Blick wartete Melina die Wirkung ihrer Worte ab. Sie mußte nicht lange warten. Juliana brach in Tränen aus, sank auf den Boden und schlug sich mit den Fäusten gegen den Unterleib.
Melina sah es zunächst mit Genugtuung und dann – zu ihrer Verwunderung – mit einem aufrichtigen Gefühl des Mitleids. Ihre Liebe zu dem Diakon war nicht weniger verblendet gewesen, als die ihrer Herrin. Langsam ging sie auf die Weinende zu und beugte sich zu ihr hinab.
4
A rgwöhnisch betrachtete der kurfürstliche Wachmann die junge Frau in grauer Beginentracht. Ihr Antlitz, ihre funkelnden Augen, ihr entschlossener Mund waren zu lebhaft für den frommen Stand. Und zu keck. Genau wie ihr Auftreten vor dem Tor des erzbischöflichen Gefängnisses auf dem ehrwürdigen Domhof.
»Laß mich durch!« forderte Columba schon zum zweiten Mal.
»Hast du eine Erlaubnis? Ein Schreiben?«
Das Mädchen blitzte ihn angriffslustig an. »Ich will zu meiner Tante, der Begine Rebecca. Doktor Birckmann von Unter Fetten Hennen schickt mich, mit etwas Wein und einem gesottenen Huhn zu ihrer Stärkung.«
»Doktor Birckmann? So.« Der Name des berühmten Mannes verunsicherte ihn. Ratlos ließ der Wächter seinen Blick von dem Mädchen zu dem schweren Weidenkorb wandern, den sie über dem Arm trug. »Was ist da drin?« führte er endlich – mit weniger Schwung, aber immer noch grimmiger Miene – seine Befragung fort.
»Wein, ich sagte es bereits«, antwortete Columba ungeduldig.
»Wein?«
Columba verdrehte die Augen. »Ja, und ein gesottenes Huhn.«
»Huhn.« Der Schwung des Wachmanns ließ
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