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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Wertheim
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Tür. Zu spät, dachte der Dürre, er war entdeckt.
    Mertgins Herz raste, dieses Geheimnis konnte ihren Tod bedeuten, sie wußte es. Wohin fliehen? Sie verbarg sich in einer Fensternische und schlang den Vorhang fest um sich. Sie schloß die Augen und hielt den Atem an. Nach einer Weile begann sie zu zählen. Ihre Lungen schmerzten, sie holte leise Luft, teilte sich die Zeit nach Atemzügen ein. Stille, nichts als Stille und Warten auf die Dämmerung, die nicht einsetzen wollte.
    Endlich warf sie einen Blick durch den Vorhang. Rechts befand sich die Kammer Columbas. Sie riß den Vorhang zur Seite und lief mit großen Schritten darauf zu. Sie stieß die Tür auf und fiel beinahe hinein. Rebecca. Die Begine schreckte aus unruhigem Schlaf hoch, wandte erschrocken den Kopf zur Tür.
    »Mertgin! Was ist? Was ist mit meiner Schwester?« fragte sie aufgeregt.
    Die Magd fiel auf die Knie. »Nichts, nichts, oh, es ist so schrecklich.« Don Cristobals weiße Nacktheit, Mertgin zitterte, erst jetzt packte sie das ganze Ausmaß des Entsetzens und der Angst, einer Angst, die direkt aus der Hölle kam. »Es ist Sünde, Verdammnis, Teufelswerk.« Die Magd schluchzte.
    Rebecca legte den rechten Zeigefinger auf die Lippen. »Beruhige dich, erzähle, was geschehen ist.« Schluchzen. Die Begine stand auf und wollte zur Tür – Katharina! »Geht nicht, Rebecca, laßt mich nicht allein, er wird mich töten!«
    »Wer?«
    »Der Spanier. Er wird mich töten.«
    Rebecca runzelte die Stirn. »Welcher Spanier? Warum sollte dich jemand töten wollen?« Wieder nur Schluchzen, Flehen. »Laßt mich nicht allein.« Rebecca zog die Frau energisch hoch. »Komm, wir gehen zu Katharina, Columba schläft ruhig.« Sie warf einen Blick zum Bett, dessen Vorhänge gegen die Kälte der Nacht zugezogen waren.
    Mertgin ließ sich willig mitziehen, den stillen Korridor entlang, die Treppe hinab. Die Schlafzimmertür stand offen, kein Geräusch, eine unheimliche Stille, man meinte, das Brennen der Kerzen zu hören. Rebecca beschleunigte ihre Schritte, ließ Mertgins Arm fahren, rannte fast. Ein schreckliches Bild stieg in ihr hoch, das blutverschmierte Gesicht, das Kreuz aus Seidenfäden auf der Stirn der schreienden Frau. Ihre Nachtschatten, ihre Visionen, der furchtbare Bilderteppich. Draußen setzte endlich die Dämmerung ein.
    9
    M elina lehnte ihren Kopf an die Brust des Diakons, beide lauschten dem steten Tropfen von Wasser, das durch das Mauerwerk des Tonnengewölbes sickerte, sich eine Rinne suchte und schließlich herabfiel. Der Geruch kalten Weihrauchs mischte sich mit der Feuchtigkeit des unterirdischen Raumes. In einem Becken glühten die Kohlen aus, daneben lagen sie in einem Meer aus Kissen auf einem uralten Steinaltar, der einst der römischen Göttin des Liebreiz und der sinnlichen Begierde geweiht gewesen war. Bei Bauarbeiten an den Fundamenten von St. Alban hatte man die Stufen zu dem kleinen Geviert des Tempels hinter einer brüchigen Mauer entdeckt. Die Maler hatten sie rasch wieder vergessen, der Diakon nicht. Begarden hatten ihn einst die Bedeutung der heidnischen Göttin Venus gelehrt, leiblich und geistig. Gemeinsam hatten sie in der Bibel und in den apokryphen Schriften gesucht nach Worten und Bildern, die vom Leib, der Liebe und der heiligen Lust des Fleisches sprachen. Nie hatte der Diakon die Macht der zärtlichen Spiele vergessen. Nun lehrte er sie in blumiger Sprache und mit seraphischen Worten anderen und genoß die eigene Macht.
    Hier in den unterirdischen Gängen und Kanälen, die die Stadt seit Römertagen durchzogen und sich von Keller zu Keller und Lager zu Lager verzweigten, versammelte er in unregelmäßigen Abständen seine Gemeinde der Engel. Tief unter St. Alban predigte er, daß sie Gottes Erwählte seien, daß es unter Engeln weder Scham noch Eifersucht geben könne, und auch kein Verbot, was den zärtlichen Gebrauch des Körpers betrifft. Törichte Bürgerstöchter und gelangweilte Kaufmannssöhne, ein paar verderbte Mönche und wollüstige Greise waren seine Jünger. Er verachtete sie im geheimen alle, sie waren so leicht zu verführen und weniger an Gott als an der sündigen Seite seiner Lehren interessiert. Der Diakon suchte nach mehr und fand es nicht bei seinen Jüngern und Jüngerinnen.
    Die schwarze Melina und die schöne Juliana hielten sich dank ihrer mit Bildern der Heiligen Schrift angefüllten und aufgeheizten Phantasie für eine Sulamith und eine Eva. Auch sie lockte mehr die Ketzerei des Fleisches als

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