Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
eine Ketzerei des Geistes.
Gemeinsam brach man unter der Kirche gesegnetes Brot, tauschte Küsse zur Feier der Wandlung, sang verbotene Verse eines apokryphen Evangeliums des Johannes. Dann und wann schenkte der Meister im Anschluß an die seltsamen Feiern seine besondere Gunst einer der Jüngerinnen, indem er sie liebkoste und ihren nackten Leib streichelte. Heilige Hochzeit nannte er es, die Vermählung der auserkorenen Leiber. Die Bürgerstöchter buhlten um ihn, als handele es sich um einen reizvollen Wettbewerb.
Die Zeremonie war lange vorüber.
Absichtsvoll hatte der Diakon Melina für diese Nacht erwählt, um Juliana zu demütigen. Er hatte die schwarze Zofe einige harmlose Spiele der Liebe gelehrt und ihre hochmütige Herrin Juliana die ernsthaften Qualen der Verschmähten. Er fühlte seine Macht. Sie erfüllte ihn mit Schauern der Wollust. Er, ein kleiner Diakon, beherrschte die Tochter eines van Geldern wie eine mechanische Puppe. Er lächelte, groß fühlte er sich und großmütig, doch in Wahrheit ging sein Begehren nur auf eine einzige, eine wahrhaft heilige Frau, deren graue Augen so betörend sanft, so klar und voll der wahren Liebe Gottes waren. Ihr, nur ihr wollte er sich mit Leib und Seele ganz anvermählen. Umsonst hofften seine Jüngerinnen, ihn jemals ganz als Mann zu empfangen.
»Ihr Schoß ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt«, hauchte der bleiche junge Mann im Meßgewand, das er aus der Sakristei von St. Alban zum Frevel entwendet hatte, genau wie seine Sätze aus dem Hohelied des Salomon.
Melina wußte nichts davon, kannte weder Bibel noch Hohelied. Sie schloß die Augen und atmete still den Duft des Mannes. Die Zofe kannte keine Liebe, hatte sie nie gekannt, darum hielt sie die abgeschmackten Zärtlichkeiten des Diakons dafür und ahnte nicht, daß er in seinen Gedanken bei einer anderen war.
»Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu«, zitierte sie, wie sie meinte, die Weisheiten ihres angebeteten Predigers. Sie schlug die Augen auf. »Meine Herrin wird mich dennoch schlagen.«
»Die Liebe verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles«, hielt ihr der Diakon mit kalter Stimme Verse des Korintherbriefs entgegen.
»Sie liebt dich.«
»Sie liebt nicht genug, um Gott zu empfangen.«
»Du verlangtest ein Opfer so stark wie der Tod. Was soll sie tun?«
Der Diakon schob Melinas Kopf hoch und erhob sich. »Der Tod und die Liebe sind eins«, sagte er geheimnisvoll. Melina spürte nur Kälte. »Du sagtest, sie muß den Menschen opfern, den sie am meisten liebt. Wen meintest du?«
»Komm«, sagte der Diakon und glitt vom Altar. Sie nahm seine Hand, gemeinsam gingen sie die Stufen hinauf. Er schob einen Vorhang zur Seite. Sie durcheilten das Gewölbe, in dem Kerzen vor den Heiligenfiguren flackerten, stiegen hoch in den Kreuzgang. Der Diakon ließ Melinas Hand fahren. »Geh allein, ich werde nun beten.«
»Zu wem?« flüsterte Melina und fühlte Scham beim Anblick der Heiligen Mutter in der Seitenkapelle.
Der Diakon antwortete nicht, er beugte das rechte Knie vor dem Kreuz. Die Maria vor ihm, so glaubte er, hatte graue Augen.
Melina erklomm die Stufen zum Triforium, von dem aus eine Tür direkt in die Hauskapelle der van Gelderns führte, in der sie von einem Fenster aus die Messen verfolgen konnten. Leise öffnete und schloß sie die Tür. Wieder das Gesicht einer Madonna. Dann ein schrecklicher Schrei.
10
D ie Tote lag bequem. Ein Engel stand an ihrer Seite.
Rebecca glaubte für kurze Zeit an einen Traum, flughafte Schemen von Schmerz und Trost. Die Wirklichkeit war anders. Es war Juliana, die mit gelöstem Haar dastand und auf Katharina starrte. Einen Moment beruhigte sich Rebecca bei deren Anblick. Die Stirn der Schwester war unversehrt, und verzückt ihr Lächeln. Erst dann glitt Rebeccas Blick dahin, wo auch Julianas Augen fast wollüstig verweilten: Die bloße Brust der Toten war zerteilt von rohen Schnitten. Blut sickerte in blasigen Tropfen aus den Wunden, die die Form eines Kreuzes hatten. Der Längsbalken reichte bis zum Nabel. Keine häßliche Wunde, nein, sie war von seltsamer Schönheit. Weniger roh als das Messer, das stumpf von Blut in Columbas Hand ruhte. Mit dem Rücken zur Wand stand sie da, die Augen
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