Die Visionen von Tarot
und ging zum nächsten Bild weiter. „Unter anderem steht sie für die Erinnerung.“ Und die dargestellte verschleierte Frau war – sie selbst. Er brauchte nicht über die ‚anderen’ Dinge nachzudenken, die sie andeutete. Er dachte an Amaranth in ihrem Landkartenkleid mit den Vulkanbrüsten, Amaranth als nackte Verführung in der Vision der Sieben Kelche. Als Schwester Beth vom Heiligen Orden der Vision, die er zu verführen versucht hatte. War es dieses Mal ihre wahre Rolle?
Aber wieder stellte sie auch die Versuchung dar. Eine Versuchung, der er hier gewiß widerstehen mußte, wenn ihn nicht das furchtbare Gewicht der Pyramide zermalmen sollte.
Aber sie war schon zum nächsten Bild weitergegangen – und es war leer. „Der Geist“, sagte sie. „Das Unbekannte oder Ungewisse, das Unendliche, das Nichts.“
Was? Das war keine Tarotkarte. Er blieb stehen und wollte gerade fragen – hielt sich aber noch zurück. Keine Fragen! Seine Gedanken über ihre Anziehungskraft hatten ihn fast in eine Falle gelockt. Er würde alles einfach akzeptieren müssen, denn dies hier war kein Tarot. Nicht ganz jedenfalls. Es war – etwas Unbekanntes.
„Unverschleierte Isis“, sagte sie unvermittelt und warf den Schleier ab. Nun war sie eine Frau in voller Blüte, und ihr Gesicht erstrahlte wunderschön im Lampenlicht. Sie spielte mit einem einzigen Thema verschiedene Variationen durch, aber dazu war sie auch hervorragend geeignet! „Aktion!“
Aktion. Sie hielt immer noch seine Hand, und nun zog sie ihn nahe zu sich und hob den Mund zu ihm auf. So unverschämt kußfreudig!
Er nahm nun sie bei der Hand, zog sie mit sich und führte sie beide zum nächsten Bild. Seine Handlung bestand darin … die Lektion weiterzutreiben.
Anmutig gab sie nach. Sie kannte tausend kleine Tricks; wenn einer einmal versagte, spielte das keine Rolle. Wenn dies ein weiterer Test gewesen war, so hatte er ihn wohl bestanden – vermutlich jedenfalls.
„Nun sehen wir uns noch einmal die verschiedenen Aspekte der Treue an“, fuhr Isis fort. „Hier ist der Herrscher, das Symbol der Macht.“ Sie ging weiter. „Und der Meister der Arkanen, der die Intuition repräsentiert. Und hier sind die beiden Wege, die die Wahl andeuten.“
Bruder Paul ging nickend mit ihr weiter. Das waren Bilder, die dem Tarot ähnelten, aber nicht voll entsprachen. Diese Karte mit dem Unbekannten …
Aber nun hielt sie inne. Sie zuckte mit der Schulter, und das Gewand glitt herab. Nun stand Isis in kurzem Rock und Oberteil da, so schön wie eh und je. „Auch als Opfer bekannt“, sagte sie und rückte ihm wieder näher.
Das Opfer, sie zurückzuweisen? Das schien der einzig sichere Weg, wenn er auch gern von der ständig dargebotenen Gabe genascht hätte, um ein für allemal damit fertig zu sein. Zölibat und die Ablehnung von Sex waren ja gut, wenn man sich ungesunderweise in Klausur verzog, aber Bruder Paul war ein absolut gesunder und menschenfreundlicher Mensch. Dennoch. Er ging weiter zum nächsten Bild.
Sogleich folgte sie ihm. „Der Wagen der Osiris, das Sinnbild der Präzession“, sagte sie.
Präzession. Das hatte er fast herausgefordert, aber wiederum beherrschte er sich. Er hatte erwartet, sie würde das Bild als Sinnbild für den Sieg interpretieren. Jedesmal, wenn die Tarot-Beziehungen festere Gestalt anzunehmen schienen, wurde diese Beziehung wieder unterbrochen.
Sie schritt weiter. „Begierde – Gefühl“, verkündete sie beim nächsten Bild. Nun, das hatte Ähnlichkeit mit dem Thot-Tarot und der Version Stärke mit dem Titel Lust.
Aber dann zeigte sie ihm das nächste: „Der gezähmte Löwe – Disziplin!“ Das bedeutete doch die Stärke! Aber was dann …? „Auch Verzauberung, Stärke, geistige Kraft oder Glückhaftigkeit genannt“, fuhr sie fort. Und das Bild stellte eine Frau dar, die einen Löwen hielt. Aber …
„Hier ist die Familie des Menschen – die Natur“, sagte sie. Auch das kannte er nicht aus dem Tarotspiel. „Und hier ist das Rad, welches den Zufall bedeutet. Und die Sphinx, auch als verschleierte Lampe bekannt, die unverschleiert die Zeit repräsentiert.“ Nun geriet alles durcheinander! Die Karte mit dem Eremiten bedeutete doch die Zeit, während die Sphinx auch das Glücksrad darstellte. Aber sie redete schon weiter und verhinderte, daß er einen klaren Gedanken fassen konnte. „Chronos, der ehemalige Herr der Götter …“
Da bemerkte Bruder Paul etwas anderes. Er hatte während der ganzen Zeit seit seiner
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