Die Vogelfrau - Roman
sich hin. »Sehen Sie, ich schreibe alles auf. Das getippte Protokoll bekommen Sie zum Durchlesen und Sie können alles abändern, falls ich etwas falsch aufgeschrieben habe. Erst, wenn Sie mit dem Ganzen einverstanden sind, unterschreiben Sie das Protokoll, und zwar jede Seite einzeln. Sie können mir vertrauen.«
Da war wieder dieser Ausdruck von Bitterkeit in ihrem Gesicht. Eine scharf gezeichnete Falte zog sich von ihrem rechten Nasenflügel bis zum Mundwinkel. ›Kummerfalte‹, so hatte Ilse Bloch selig dieses Gebilde immer genannt. ›Du machst mir nur Falten und graue Haare‹, hatte sie ihm stets vorgeworfen, wenn sie vor dem Spiegel stand und vergeblich versuchte, ihre ›Kummerfalten‹ glatt zu ziehen.
›Nichts als Kummer.‹
Der kleine Erich hatte nie gewusst, womit er ihr eigentlich so viel Kummer bereitete. Ehrlich.
Aber er hatte sich niemals getraut danach zu fragen.
»Wahrscheinlich sprechen alle Indizien sowieso gegen mich.« Die Stimme der Löble klang resigniert. »Besser, ich packe aus. Er hat mich ja schon so lange missbraucht, da wäre weiß Gott genug Material für drei Mordmotive.«
Bloch schwieg und machte sich Notizen.
Erstaunlich, wie nahe Bloch mit seiner Hypothese am tatsächlichen Geschehen dran gewesen war. Und trotzdem lag er weit daneben.
Professor Zumkeller in Zürich steckte mittendrin im Schlamassel.
Zumkeller hatte nämlich die Schädel geliefert.
Und das nicht nur ein Mal. All diese schönen Ausgrabungen der letzten Jahre – sie waren zum größten Teil Fälschungen. Zumindest, was die Ausgrabungen von Hoffmann betraf. Gräber schien in diesem Zusammenhang über jeden Verdacht erhaben.
Vorläufig jedenfalls.
Wer konnte wissen, was alles in diesem Sumpf verborgen war.
Zumkeller hatte natürlich ungehinderten Zugriff auf die anatomischen Sammlungen und die Asservatenkammern der Zürcher Gerichtsmedizin. Dort lagen genügend verstaubte und vergessene Knochen, nach denen niemals jemand fragen würde. Es gab also reichlich Material, mit dem er seinen alten Freund und ehemaligen Studienkollegen Hoffmann versorgen konnte. Sie hatten sich vor 20 Jahren bei Vorlesungen im Fach Anthropologie kennengelernt. Bloch ließ sich das Fremdwort buchstabieren, ohne sich dafür zu schämen.
»Die Wissenschaft von den Erscheinungsformen des Menschen«, übersetzte ihm die Löble den Fachbegriff. »Kenntnisse in Anthropologie sind nicht nur für Gerichtsmediziner nützlich, sondern auch für Archäologen.«
Und für Kriminologen, dachte Bloch. Sogar äußerst nützlich für Kriminologen. Besonders, wenn sie mit mumifizierten Leichen zu tun haben.
Hoffmann hatte sich immer dann an Zumkeller gewandt, wenn er wieder einmal eine seiner minutiösen Projektplanungen ausgearbeitet hatte. Projekte, die seinen wissenschaftlichen Ruhm begründeten und seine Stellung gegenüber dem zunehmend müder werdenden Institutsleiter Gräber ausbauen sollten.
»Ich denke, Hoffmann hat langfristig auf die Stelle von Professor Gräber spekuliert«, sinnierte die Löble. »Übrigens gehört kein großes Können dazu, die Knochen auf alt zu trimmen. Ein paar Wochen in einer Jauchegrube oder in einem verrotteten Misthaufen genügen vollkommen, danach sehen alle Knochen so aus, als ob sie Jahrhunderte alt wären.«
Die Löble lächelte schwach. Waren die Funde dann der Öffentlichkeit präsentiert worden, war es ihre Aufgabe gewesen, die Fälschungen gegen echte, das heißt alte Knochen auszutauschen.
»Damit hat Hoffmann sich die Finger nicht schmutzig gemacht«, sagte die Löble und betrachtete ihre schwärzlichen Fingerspitzen. Bloch erkundigte sich taktvollerweise nicht nach Jauchegruben und Misthaufen.
»Ich trug immer das volle Risiko, verstehen Sie? ›Vertrauen Sie mir‹, hat er immer gesagt. ›Sie können mir blind vertrauen. Sie wollen doch auch Karriere machen oder möchten Sie lieber jahrelang Aktenstaub schlucken?‹ Ja, das waren seine Worte – und ich war blöd genug darauf reinzufallen. Blöd war ich und viel zu ehrgeizig. Ich muss vollkommen blind gewesen sein.«
Bloch verstand sie gut. Als er in ihrem Alter gewesen war, war auch er viel zu ehrgeizig gewesen. Er hatte viel kaputt gemacht in seinem Leben.
»Der Merten weiß vermutlich mehr, als er zugeben will. Der hat doch immer gesehen, wie ich nachts hier reinkam, um Knochen zu sortieren. Ist schon witzig ...« Sie schoss einen flusskieselharten Blick ab. »Ein großer Teil der Zürcher kriminologischen Sammlung befindet sich
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