Die Vogelfrau - Roman
vorgenommen werden. In dem Fax stand, dass die Lederhäute, in die die Mumie eingewickelt worden war, maximal fünf Jahre alt sein konnten. Bei der Mumie handelte es sich also mit höchster Wahrscheinlichkeit mitnichten um einen prähistorischen Fund. Das Körpergewebe der Mumie war zwar noch nicht untersucht worden, aber wer wickelte schon eine jahrhundertealte Leiche in neue Umhüllungen und verscharrte sie dann auf einer Baustelle? Das war doch vollkommen abstrus. Und wie sollte Bloch innerhalb von zehn Minuten eine brauchbare Hypothese zu diesem Tatbestand entwickeln?
»Was ist? Gehen wir weiter?« Bloch zog vorsichtig an der Hundeleine. Churchill schaute flehend. »Also gut, ruh dich aus.« Bloch schabte mit den Schuhspitzen über das neu verlegte Kopfsteinpflaster auf dem Münsterplatz. Vor Kurzem hatte hier noch ein tiefes Loch im Boden gegähnt, Gräbers Ausgrabungsprojekt. Solide Arbeit. Gräber hatte hier ein Römerkastell ausgegraben. Die Ergebnisse seiner Arbeit waren zurzeit in einer Ausstellung im Landesmuseum zu bewundern. Es war eine solide Arbeit, aber nicht gerade spektakulär. Es gab viele römische Fundstellen in der Region. Eine Mumie jedoch hatte es noch nie gegeben.
Bloch hatte die verbleibenden zehn Minuten genutzt, um die Staatsanwaltschaft zu informieren. Die Mumie musste schnellstmöglich beschlagnahmt werden. Außerdem rief er die Gerichtsmedizin in Zürich an. Professor Zumkeller war außer Haus. Der Kommissar erreichte nur den Oberpräparator Binder. Binders Stimme klang am Telefon rau und müde. Vielleicht lag es aber auch an der Verbindung. Manchmal gab es atmosphärische Störungen.
Er sagte:
»Herr Kommissar, damit habe ich, ehrlich gesagt, sowieso gerechnet. Aber wenn Sie noch verwertbares Material haben wollen, dann müssen Sie sich beeilen. Die Mumie verwest nämlich inzwischen im Zeitraffertempo.«
Churchill stand auf und schüttelte sich.
»Komm, alter Junge, wir gehen noch ein Stück am Wasser entlang. Das wird uns beiden gut tun.«
Natürlich hatte Kommissar Bloch gewisse Denkansätze gehabt; mit etwas Fantasie hätte es sogar eine Hypothese ergeben – vorher. An Fantasie hatte es ihm nämlich noch nie gemangelt. Bei einer Mutter wie Ilse Bloch selig, brauchte ein Kind extrem viel davon, um zu überleben. Da er zu allem Überfluss auch ein Einzelkind war, hatte sich die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Mutter auf ihn konzentriert. Bloch murmelte leise vor sich hin: »Ilse-Bilse die böse Hülse – keiner will se – kam der Koch Peter Bloch – nahm se doch.« Dabei hatte sein Vater gar nicht Peter geheißen. Er war auch nicht Koch gewesen, sondern Feuerwehrmann und schon mit Mitte 40 an einem Herzinfarkt gestorben.
»Komm jetzt, Churchill. Du kannst nicht an jedem Baum stehen bleiben.«
Er hatte keine Zeit zu verlieren, denn die Mumie verweste im Stundentakt und mit ihr gingen wichtige Spuren unwiederbringlich verloren. Alle bisherigen Denkansätze waren nichts mehr wert. Es gab keine Hypothese. Nichts.
Auch wenn der Druck noch so hoch war: Er brauchte Zeit. Er brauchte alle Zeit dieser Welt, um endlich einmal nachzudenken.
Was, wenn der Professor Zumkeller aus Zürich dahinter steckte? Hatte Zumkeller etwa einen Mord begangen und versucht, Hoffmann die Leiche unterzujubeln? Und Hoffmann hatte die Leiche postwendend zurückbefördert. Hatte Zumkeller sich daraufhin an Hoffmann gerächt? In diesem Fall hatte Zumkeller allen Grund, die Leiche so miserabel zu konservieren. Je verwester der Körper war, desto schwieriger würde sich die Spurensuche gestalten. War das etwa ein brauchbarer Denkansatz? Sehr plausibel klang es nicht.
»Komm endlich.« Bloch zerrte energisch an der Leine. Churchill setzte sich widerwillig in einen langsamen, zockelnden Trab. Sie durchquerten ein System von Treppen und Unterführungen. Bis zu Blochs Wohnung in der Kreuzlinger Straße war es nicht mehr weit. Zum Museum war es näher.
Der Schäferhund des Nachtwächters und Churchill kannten sich. Die Glastür zwischen sich, pressten beide Tiere ihre feuchten Nasen an den Boden, schnüffelten und scharrten begeistert wedelnd mit den Vorderpfoten. Sich so in gleicher Haltung gegenüberstehend wirkten sie wie Zerrbilder ihrer selbst, wie Figuren in einem Jahrmarktspiegel.
Wolfgang Merten ließ Bloch sofort hinein. »Noch mal ne Runde drehen, Herr Kommissar? Kaffee brauche ich Ihnen wohl nicht anzubieten? Kriegen Sie eigentlich die vielen Überstunden bezahlt? Nichts für ungut, aber wenn
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