Die Vogelfrau - Roman
Zeit der Vorbereitungen geht zu Ende.
Und damit auch die Zeit der Schmerzen.
Mein Rücken tut weh. Ich weiß, ich sollte mich gerade halten und sitzen, ohne mich dabei anzulehnen. Topsannah kann das. Sie sitzt mir in anmutiger Haltung gegenüber und die Arbeit geht ihr flink von der Hand.
Die Schnur, die ich flechte, ist nicht so glatt und gleichmäßig wie ihre.
Wahrscheinlich ist das so, weil meine Finger zittern. Hunger spüre ich keinen mehr. Manchmal kreisen meine Gedanken um das Essen, aber ich würde keinen Bissen mehr runterbekommen. Sogar meine Zunge liegt dick und schwer in meinem Mund. Meine Zunge ist ein Fremdkörper geworden und meine Lippen sind verschlossen.
Mein ganzer Körper schmerzt vom Liegen auf der harten Erde. Ich schlafe kaum noch, weil ich das Gefühl habe, dass sich meine Knochen durch die dünn gewordene Haut hindurchspießen. Ich muss mich einfach anlehnen und meinen müde gewordenen Rücken ausruhen, auch wenn mich Topsannahs Blick verbrennt. Sie sagt kein Wort.
Nur das Gras raschelt unter ihren geschickten Fingern.
Ich habe Schmerzen.
Es wird bald vorbei sein.
Wahrscheinlich bin ich glücklich.
Heute Morgen ist Adler losgezogen, um den Platz vorzubereiten.
Ob ich den langen Weg schaffen werde? Den Weg zu unserem geheimen Ort?
Es ist ganz erstaunlich, in welcher Geschwindigkeit sich mein Körper von allem Irdischen befreit. Absolut erstaunlich.
Es ist wie eine Geburt.
Bloß umgekehrt.
Also ist es vollkommen normal, dass ich Schmerzen habe. Denn es gibt keine Geburt ohne Schmerzen.
Der Meister muss sehr viel Material zu unserem Ort am Seeufer bringen. Von der großen Weide, in deren hohlen Stamm ich mich als Kind versteckt hätte, von der Weide mit den gelben Libellenflügeln schnitt er 16 frische Zweige ab. Diese Stäbe wird er nun kreisförmig in die weiche Erde stecken, er wird sie biegen und miteinander verbinden. Eine Kuppel wird entstehen, eine Höhle, ein schwangerer Bauch. Der Bauch von Mutter Erde. Wir werden sie auskleiden mit unseren Tierfellen und mit unseren selbst gewebten Decken. Kein Licht wird in ihre Dunkelheit dringen. Der Eingang unseres Inipis wird in Richtung Westen weisen – in die Richtung des Sonnenuntergangs. Der Bau des Inipis folgt strengen, jahrhundertealten Vorschriften, sagt der Meister. Nicht die geringste Kleinigkeit darf er falsch machen, sonst wird die Reinigungszeremonie nicht gelingen.
Es muss gelingen.
Für einen zweiten Versuch fehlt mir die Kraft.
Man muss sich Mühe geben.
Ich muss meinen Rücken gerade halten.
Topsannah ist nicht zufrieden mit mir. Das sehe ich. Sie ist sehr ruhig. Ihre Gestalt ist zart und geschmeidig. Topsannah ist unglaublich diszipliniert und gehorsam.
Sie sollte mein Vorbild sein.
Manchmal denke ich, sie wäre imstande, mir etwas anzutun.
Brigitte war nie ein Vorbild für mich.
Besser ich vergesse sie.
Meine Mutter ist die Erde.
Wenn Adler die flache Grube in der Mitte der Schwitzhütte gegraben hat, wird er schwere Steine hineinlegen. Es dürfen keine Steine sein, die im Wasser gelegen haben. Sie würden beim Aufheizen bersten. So schleppt er die Steine aus großer Entfernung herbei. Das tut er nur für mich.
Da wäre es doch das Mindeste, dass ich es schaffe, meinen Rücken gerade zu halten.
Adler wird uns holen, sobald er mit seinen Vorbereitungen fertig ist.
Ich werde den langen Weg zum letzten Mal in Schuhen gehen. Wenn ich das Ritual durchgeführt habe, werde ich einen neuen Namen erhalten und zukünftig mit nackten Füßen gehen.
Ich werde unverletzbar sein.
Ich werde leben und die Schmerzen werden von mir genommen werden.
Ich muss nur noch eine kleine Weile durchhalten.
Bald ist es soweit.
Bald.
Topsannah blickt auf. Sie legt ihre Arbeit auf die Seite.
Sie sagt: »Wir werden deinen Kopf scheren müssen. Vorher können wir nicht anfangen.«
19. Kapitel
Brigitte erreichte ihn daheim. Die Kaffeemaschine war völlig verkalkt und spuckte nur winzige Spritzer eines pechschwarzen, gallebitteren Gebräus aus. Außerdem musste der Hund raus. Bloch war spät dran und hatte wegen Eva ein schlechtes Gewissen. Gab es überhaupt einen Unterschied zwischen der Liebe zu den eigenen Kindern und einem schlechten Gewissen?
In dem Moment, in dem Eva das Licht der Welt erblickt hatte, war gleichzeitig auch das Schuldbewusstsein geboren worden.
Churchill winselte.
»Gleich, ich komme gleich, jetzt gib doch bitte Ruhe! – Nein, Brigitte, ich habe nicht dich gemeint. Es ist der Hund, der keine Ruhe
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