Die Vogelkoenigin
noch Tausende, die unbeirrt weiterzogen.
Es war, als wäre sie in ein Meer von ganz anderer Art getaucht. Die Wolken nahmen nun den gesamten Horizont ein, und obwohl sie einerseits wie eine einzige homogene Masse erschienen, unterschieden sich vereinzelte Abschnitte voneinander in der Art der Aufballung und der Schattierung. Die Sicht war erstaunlich frei, als würden sie sich in einer Blase zwischen den verschiedenen Schichten hindurchbewegen. Nur vereinzelt zogen Schleier und Nebelfetzen vorbei sowie kleine Wolken, nach denen man fast die Hand ausstrecken konnte.
Der gewaltige Sturm nahm zu und schüttelte die Schebecke immer mehr durch. Laura hielt sich an ihrem Seil fest, um nicht den Halt zu verlieren, als das Schiff sich mal nach Steuerbord, mal nach Backbord neigte.
Der Rudergast hatte Mühe, den Kurs zu halten, und musste gegen den Widerstand des Ruders ankämpfen. »Weiter, weiter!«, schrie Arun, und in diesem Moment schlug der erste Blitz ein. Dick wie ein Baumstamm, brach er durch die Schutzhülle hindurch, riss ein gewaltiges Loch und prallte auf die Metallspitze des Großmastes. In einem kreischenden Inferno zerstob er in einem explodierenden Feuerwerk, doch einige kleinere Äste kletterten weiter nach unten und schlugen knisternd Funken aus dem Holz.
Der Wind folgte sofort nach und brauste über das Deck, riss Laura den Atem aus dem Mund und hebelte ihre Beine einfach aus. Ihre Hände hielten die Halteleine so krampfhaft umklammert, dass sie nicht fortgeschleudert wurde, aber es schleuderte sie tüchtig durch wie einen Hasen im Fang eines Hundes. Irgendwann hatte sie wieder genug Luft, um schreien zu können, während sie gleichzeitig ein Stück weit hochgehoben und dann wieder auf die Planken geschleudert wurde. Das Schiff setzte seinen Weg bockspringend fort, während weitere Blitze einschlugen, sich aber jedes Mal über die Reling verliefen und den Weg nach innen nicht fanden.
Der Rudergänger konnte das Ruder nicht mehr halten; schreiend wurde er durch die Luft geschleudert. Das Ruder rotierte unkontrolliert, und das Schiff begann sich zu drehen. Als die Breitseite von den Stürmen getroffen wurde, neigte es sich bis fast in die Waagerechte. Wer jetzt nicht festgeschnallt war, schlitterte hilflos über das Deck. Kreischend hangelten diejenigen nach einem Halt, fanden eine Kante, ein Tau oder zuletzt die Reling. Zwei von ihnen wurden davongerissen, doch bevor sie endgültig in der Dunkelheit verschwanden, bekamen sie flatternde Taue zu fassen und klammerten sich daran fest.
Das Schiff drehte sich weiter, richtete sich wieder auf, und die Rutschpartie ging nun rückwärts. Es war nur eine Frage weniger Sekunden, bis der Rumpf sich zur anderen Seite neigen würde. Das führerlose Ruder würde das Schiff weiter kreiseln lassen, in einen engeren Strudel hinein, bis der Kiel obenauf kam und sie alle abstürzten.
Doch da jagte Arun in weiten Sätzen über das Deck, sprang auf den Ruderstand und griff nach dem Ruder. Seine Muskeln traten gewaltig hervor, und er knirschte selbst über den Lärm hinweg noch vernehmlich mit den Zähnen, als er versuchte, es zu halten. Er schaffte es immerhin, dass die trudelnde Bewegung und die Drehung verlangsamt wurden, aber es war ersichtlich, dass seine - gewiss gewaltige - Körperkraft allein nicht ausreichen konnte. Doch da war sein Steuermann schon bei ihm und griff ebenfalls zu. So schmal und grauhaarig er wirkte, er verfügte über schlummernde Kräfte, die er in Momenten wie diesen aktivierte. Seine Gestalt wandelte sich plötzlich in etwas Bärenartiges, um die Hälfte größer und mit mindestens doppelter Muskelmasse.
Gemeinsam gelang es ihnen, die Kontrolle über das Ruder zurückzuerlangen, und in einer langsamen Halse brachten sie das Schiff mühsam wieder auf Kurs.
Das trockene Gewitter hatte sie immer noch fest im Griff, doch die Cyria Rani kämpfte sich mit den wenigen Segeln, die sie fieren konnten, tapfer weiter.
Laura rappelte sich hoch; sie hatte vermutlich einige blaue Flecken davongetragen, abgesehen davon aber war sie wohlauf. Und sie fühlte sich ... gut. Seltsamerweise schien das Gewitter eine reinigende Wirkung auf ihren Gemütszustand zu haben, und sie berauschte sich an dem Nervenkitzel. Als würde sie ein Canyoning oder einen Sturz von einem Wolkenkratzer mit dem Bungeeseil wagen.
Der Rudergänger kam mühsam wieder auf die Beine, er blutete aus einer Kopfwunde und am Arm. Doch er kletterte den Ruderstand hinauf und verlangte, wieder
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