Die Vogelkoenigin
begegnen?
Sie wischte die Tränen weg und starrte das Abendessen an. Also das konnte keinesfalls ihrem Traum entsprungen sein. Nicht einmal das schlechteste Essen in Innistìr war so dürftig gewesen. Wenn sie das aß, verlor sie mehr Kalorien, als sie zu sich nahm. Außer, Plastik setzte an.
Die Tür öffnete sich, als Laura sich gerade entschloss, eine Nacht darüber zu schlafen. Sie war müde und musste am nächsten Morgen eine wichtige Entscheidung treffen.
Sie schreckte hoch und tastete nach dem Lichtschalter, doch die Lampe flammte bereits auf. Ein Mann in der üblichen Schutzbekleidung kam herein.
»Ich bin Dr. Liebesam«, stellte er sich vor. »Ich bin für die psychologische Betreuung von Patienten zuständig, die meine Hilfe benötigen.«
Laura war sofort alarmiert. »Hat Dr. Winter ...«
»Machen Sie sich keine Gedanken, das ist reine Routine. Von der Anmeldung wird an mich weitergegeben, wenn jemand ohne Papiere bei uns eingeliefert wird und wir niemanden benachrichtigen können.«
»Aber Dr. Winter hat ...«
»Hören Sie, ich werde Sie nicht lange aufhalten. Es geht uns lediglich darum, festzustellen, dass Sie keinen Schock erlitten haben. Nicht, dass Sie einen Kollaps erleiden.«
»Mir fehlt nichts.« Laura wusste selbst, wie hohl und leer das klang. »Morgen weiß ich bestimmt wieder, wer ich bin.«
»Ich würde gern jemanden benachrichtigen, damit Sie nicht allein sind«, fuhr der Psychologe fort.
»Da gibt es niemanden.«
»Eltern, Geschwister ...«
»Nein.«
»Verstehe. Sie stehen sich nicht so besonders gut mit Ihrer Familie?«
Laura spürte, wie Zorn in ihr aufwallte. »Ich würde jetzt sehr gern schlafen, denn ich bin äußerst müde. Bitte kommen Sie morgen wieder!«
»Ich halte es für äußerst wichtig, mich heute mit Ihnen zu unterhalten«, beharrte Dr. Liebesam. Laura fragte sich, wie spät es inzwischen wohl war und wieso ein Psychologe noch auf der Station Dienst tat. Unruhe stieg in ihr auf und ein wenig Angst. Im Grunde war sie ausgeliefert. Sie lag hier im hinten offenen Hemdchen, die Infusionsnadel im Arm, draußen herrschte eisiger Winter in finsterer Nacht, und das halbe Krankenhaus schlief ebenfalls.
Sie überlegte rasch, was sie unternehmen sollte, und entschied sich dann, ihn keines Blickes mehr zu würdigen, sich hinzulegen und die Augen zu schließen.
»Das Gespräch ist beendet«, machte sie deutlich, legte den Kopf ins Kissen und schloss die Augen, wie sie es vorgehabt hatte. Sie war ziemlich stolz auf sich, es so durchzuziehen, normalerweise gab sie schnell nach oder versuchte zu erklären ...
»Tut mir leid, das sehe ich anders«, erwiderte der Arzt.
Jetzt tat Laura etwas noch Kühneres. Sie schlug die Augen wieder auf, griff nach der Fernbedienung und drückte die Ruftaste. »Ich werde die Schwester bitten, dass Sie gehen. Es ist spät, Sie haben jetzt überhaupt keinen Dienst mehr, und ich habe Patientenrechte - vor allem auf Ruhe. Reden Sie zuerst mit Dr. Winter, und dann können wir uns morgen gern weiter unterhalten.«
Sie spürte, wie es sich unter ihrer Haut regte. Und sie spürte, wie etwas gegen die weiße Wand in ihrem Geist anrannte, sie konnte es förmlich sehen, und es drückte sich durch plötzlichen stechenden Kopfschmerz aus.
Nun wurde ihr allmählich unheimlich. Hoffentlich bekam sie keinen Anfall in Gegenwart dieses Arztes! Dann würde sie wahrscheinlich kurzerhand in die Geschlossene eingewiesen und dort vergessen.
Die Tür öffnete sich, und nicht eine, sondern zwei Schwestern kamen herein. Blond und dunkelhaarig. Schlossen die Tür hinter sich. »Ist sie das?«, fragte die eine.
Laura erschrak, ihr Herz raste wild. Die beiden Frauen trugen keinerlei Schutzbekleidung. Und was sollte die Frage?
Dr. Liebesam zog sich die Maske herunter. »Ja, zweifelsohne. Betrachtet ihre Flecken auf der Haut. Sie bewegen sich sogar.«
Laura versteckte die Arme unter der Decke. »Geht raus hier, alle«, flüsterte sie. Die Angst raubte ihr die Stimme.
»Na komm, Schätzchen, mach es uns nicht schwer«, sagte die Dunkelhaarige und rückte langsam näher. Genau wie ihre Kollegin hatte sie ein völlig nichtssagendes Gesicht. Laura hätte es nicht beschreiben können. Auch der angebliche Psychologe sah völlig neutral aus, so glatt, dass der Blick einfach abrutschte.
»Ja, das hilft nämlich nichts. Gib uns die Antworten, die wir brauchen, und schon hast du Ruhe vor uns.« Die Blonde folgte lächelnd ihrer Kollegin.
Auch der »Arzt« lächelte.
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