Die Vogelkoenigin
Willen, und nach dem Artgenossen rief. Einsam und hoch der Pfiff, verlor er sich in der violett dunklen Glätte des Himmels. So schwebte er dahin, sah dort unten mit scharfen Augen das Land winzig und zerbrechlich, wie es vorüberzog.
Ich rufe dich.
Und dann erhielt er Antwort.
Noch vor dem Morgengrauen ließ Leonidas die Feuer wieder in Gang setzen und ein karges Mahl und Kräutertee vorbereiten. Auch die Pferde bekamen ihren Anteil, vor allem den Tee nahmen sie gern an. Rüstung anlegen, satteln, Waffen prüfen.
»Was hast du denn vor?«, fragte Delios leise.
Statt einer Antwort deutete der General zum Himmel. Von Norden her flog der Seelenfänger heran, vermutlich mit frisch aufgenommenen Seelen, die er während der Nacht gesammelt hatte.
Der Stellvertreter polierte mit dem Unterarm seinen Helm. »Wir hätten Alberich benachrichtigen sollen, damit er einschreitet.«
»Was wäre gestern wohl schnell genug gewesen, Morgenröte zu erreichen, dass jetzt schon Unterstützung eintrifft?«, brummte Leonidas und schloss den Gürtel. »Mein Befehl lautet: Wir entern das Schiff.«
»Aye, mein General.« Für Delios wäre es niemals infrage gekommen, einen Befehl nicht zu befolgen. Doch er musste sich trotzdem vergewissern. »Du weißt aber schon, dass wir eher in die Felsen reinkommen, als dieses scheußliche Seelenschiff zu kapern?«
Leonidas hatte nichts anderes als einen Einwand von ihm erwartet. Er ließ es seinem Stellvertreter diesmal durchgehen. Wie die meisten anderen Male auch. »Es genügt, wenn wir ihn so lange beschäftigt halten, bis er wieder absegeln muss, weil der Fluch ihn dazu zwingt. Aufgrund meines Schutzes kann er uns nicht viel anhaben, die in den Felsen hingegen schon. Wir sind gegen Heimtücke gefeit, nicht gegen eine offene Verteidigung.«
Delios nickte und gab den Befehl weiter. Bald darauf saßen sie auf und ritten in langsamem Galopp in seitlich versetzten Fünfergruppen auf die Felsen zu. Ob Fokke bereits ahnte, was der General vorhatte? Die Drohung des Generals war deutlich genug gewesen, doch dass Leonidas aufs Schiff gehen würde, um es zu übernehmen, damit rechnete der Untote sicher nicht.
Die Temperatur war noch angenehm, das Licht sanft. Die Pferde waren ausgeruht und frisch. So lehrte Leonidas üblicherweise alle das Fürchten, wenn er Städte und Dörfer angriff, die nicht ihren Tribut zahlen wollten.
»Die Schwerter gezogen!«, befahl Delios.
Das sollte darüber hinwegtäuschen, dass zehn der Löwenkrieger Seile und Enterhaken bereithielten. Diese hatten sie immer bei sich, denn es galt manchmal, Mauern zu überwinden oder Palisaden einzureißen. Wegen der Schwerter ging Fokke bestimmt davon aus, dass sie die Felsen stürmen wollten; er wusste ja nichts von dem versperrten Eingang.
Die Zeit war gut geschätzt, denn der Seelenfänger traf etwa gleichzeitig bei den Felsen ein und flog gerade einen Bogen, um Ziel zu nehmen. Leonidas zweifelte nicht daran, dass Fokke diesmal das Feuer mit den Kanonen eröffnen würde. Dann bekam er die Menschen eben erst als Seelen in seine Fänge und würde sich trotzdem an ihnen schadlos halten.
Delios blickte zu ihm herüber. Leonidas musterte die Wege, den Kurs des Schiffes und nickte. Sie waren jetzt fast unterhalb des gewaltigen schwarzen Bauches, keiner von dort oben konnte sie mehr sehen.
»Du eingebildeter Holländer«, stieß Leonidas hervor. Alberich hatte ihm einmal die Geschichte seines Verbündeten erzählt - dass der Untote nichts weiter als ein Mensch gewesen war, der irgendwo aus dem Norden stammte und verflucht wurde wegen einer Untat, über die niemand Kenntnis hatte. Der General hatte keine Ahnung, wo dieses »Holland« liegen mochte, doch für eine Beschimpfung reichte es allemal. »Du hältst dich für unangreifbar und hast dich nie dafür interessiert, wozu wir fähig sind.«
Delios gab das Signal, und die zehn Schützen scherten aus dem Verband aus. Sie banden die Zügel am Sattelhorn fest; ihre Pferde wussten, was sie zu tun hatten. Nun hatten sie die Hände frei, um die Enterpfeile in die Armbrüste einzulegen. Mit bloßer Armkraft könnten sie niemals so hoch werfen, aber mit den Armbrüsten war die Reichweite mindestens verdoppelt, wenn nicht verdreifacht. Sie würden unter dem Schiff dahingaloppieren, um im richtigen Moment zur Seite zu lenken und gezielt die Haken über die Reling zu schießen oder zumindest die Bordwand knapp darunter zu erreichen. Haken wie Seile waren äußerst stabil. Die Seile waren aus
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