Die Voliere (German Edition)
Kiefer Henk zum Abschluss seines Besuches im Goldenen Kalb ausdrücklich vor einem Alleingang gewarnt hatte, fuhren am darauf folgenden Samstagmorgen zwei Pick-ups in den Scheelbacher Forst; sie kamen von der Lohrhauptener Seite, sodass weder die Polizei noch die Journalisten etwas davon mitbekamen. Die Männer saßen schweigend auf der Ladefläche und ließen sich den Fahrtwind um die Nase wehen. Um sie herum verteilt lagen Holzpfähle, Latten, Bambusstangen, Äxte und die dazugehörigen Schleifsteine, Zimmererhämmer, Seile und Kabelbinder.
Die Pick-ups fuhren einen Holzweg entlang, am Rande lagen riesige Stapel gefällter Eichen, ausnahmslos mit derselben grellen Sprühfarbe markiert, mit der ›das Wiesel‹, wie Henk Wawerzinek und Kiefer den Mann inzwischen genannt hatten, gekennzeichnet worden war. An den Bäumen wiesen verwitterte Holzschilder auf Wanderwege hin, ab und zu sah man im Unterholz eine noch leere Futterkrippe, was sich allerdings mit dem ersten Schneefall ändern würde.
Vom Holzweg aus bogen die beiden Wagen in einen noch schmaleren überwucherten Weg ein, der sie umso tiefer ins Gehölz, aber näher an die Mühle heranführte, ohne dass sie entdeckt wurden. Hundertfünfzig Meter weiter endete der befahrbare Teil.
Schweigend stiegen die Insassen ab und umringten Henk Wawerzinek, dessen Glatze von der obligatorischen Wollmütze bedeckt wurde. Er breitete eine topografische Karte der Umgebung vor sich aus. Deutlich waren das Gehöft und der Aussichtsturm zu erkennen. Das verwirrende Netz der Höhenlinien verriet dem kartenkundigen Betrachter, dass es in der Umgebung Dutzende metertiefe Krater und Senken gab. Der Ortskundige wusste darüber hinaus, wie sie entstanden waren: als man nämlich vor zweihundertfünfzig Jahren riesige Felsbrocken aus dem Wald entfernt hatte, um das Fundament für das Schloss des Grafen von Rieneck zu errichten.
Henk zeichnete mit Rotstift sechs dicke Kreuze an verschiedenen Stellen des Plans ein. Die Männer teilten sich in vier Gruppen auf. Jede Gruppe versorgte sich aus dem mitgeführten Baumaterial und Werkzeug und machte sich – nachdem sie von Henk eine Kopie des Bauplans erhalten hatte – auf den Weg, um die ihr zugedachten Arbeiten zu erledigen.
Zur Mittagszeit fand man wieder zusammen. Ohne ein weiteres Wort hievten sich die Männer auf die Ladeflächen der Pick-ups und ließen sich in den Ort zurückchauffieren.
Die Wildschweine, die sich eine Stunde später aus dem Unterholz hervorwagten, entdeckten die eigenartigen Gebilde als Erste. Vorsichtig schnupperten sie daran. Der Geruch von Kunststoff und Bambus verunsicherte die Tiere. Ein Frischling geriet in einen Händel zwischen zwei Bachen und verletzte sich beim Ausbruchversuch an einem angespitzten Bambuspfahl. Die Wunde würde sich einige Tage später infizieren und das Jungtier an einer Blutvergiftung verenden.
Doch das alles geschah erst, nachdem die Scheelbacher längst wieder unter sich waren.
*
Etwa um dieselbe Zeit, als Henks Truppe den Scheelbacher Forst verließ, stolperten vier Männer und eine Frau lachend durch den Flur und ließen sich im Esszimmer auf die Stühle fallen. Tibursky wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Isch hatt ganz vergesse, wie aastrengend körperlische Abbeit is.«
»Man wird halt nicht jünger«, pflichtete Lefeber ihm bei, während er mit der Hand seinen Rücken stützte. Der Verband um die Stirn war inzwischen einem Stück Leukoplast gewichen, das die Platzwunde über seinem Auge zusammenhielt. Doch die Zahnlücke, die beim Lachen neuerdings sichtbar wurde, konnte er nicht verbergen.
Der Tisch war gedeckt, Rosen stieß die Tür auf und stellte ein Tablett mit Koteletts, Bratkartoffeln und Mohrrüben ab. Als Tibursky, ohne abzuwarten, mit der Gabel nach einem Fleischstück angelte, schlug Rosen ihm auf die Finger: »Vor dem Essen Hände waschen.«
Nora hatte bei Schreyer unter dem Vorwand eines Trauerfalls in der Familie Urlaub eingereicht. Sein Blick, nachdem er ihren Antrag abgezeichnet hatte, war undurchschaubar gewesen, aber er hatte ihr glücklicherweise weitere Nachfragen erspart.
Zufrieden betrachtete sie die kleine Truppe, die Anfang der Woche begonnen hatte, die zerstörte Voliere wieder aufzubauen. Sie hatten den Müll weggeräumt, das alte Drahtgeflecht abgenommen, die schiefe Tür begradigt und sie mit Winkeln verstärkt. Die zwei Holzpfeiler, denen die Fäulnis bereits stark zugesetzt hatte, hatten sie austauschen müssen. Und heute Morgen war
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