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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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es schaffe, von Schreyer so kurzfristig Urlaub zu bekommen.
    Donnerstag, 21. November
    Tobin Kiefer war beunruhigt. Das Dorffest und die anschließenden Ereignisse lagen fast eine Woche zurück. Die Fremden aus der Schreckenmühle waren wie vom Erdboden verschluckt. Der eine der Männer, dessen flaschengrüne Augen ihn flehentlich angesehen hatten, als er ihn Henks Kameraden übergeben hatte, hatte seine regelmäßigen Besuche in Ludwigs Bäckerei eingestellt. Der kleine Drahtige, dessen Kleider ihm immer ein wenig um den Körper schlotterten und mit dem Henk und er sich im Wald prächtig amüsiert hatten, war nicht mehr wie gewohnt an der Bushaltestelle Richtung Rieneck aufgetaucht. Und von dem Riesen, dem Einzigen, dessen Statur sogar Henk Respekt einflößte, hatte man im Dorf noch nie viel gehört oder gesehen, und erfreulicherweise blieb das so. Um ehrlich zu sein, legte Kiefer nicht einmal mehr seine Hand dafür ins Feuer, dass die Männer sich tatsächlich noch in der Schreckenmühle aufhielten.
    Kiefer befürchtete, dass seine Schäfchen das Interesse am Thema verlieren könnten, das Gerede war seit dem Fest immer weniger geworden. Also rief er Henk zu sich und beauftragte ihn damit, die Situation auszukundschaften. Doch Henk kehrte unverrichteter Dinge zurück. Die Polizisten, die ihn und seine Kameraden bei ihrem ersten Besuch bis zum letzten Moment hatten gewähren lassen, hatten ihn nun bereits kurz nach dem Waldrand in Höhe des Aussichtsturms aufgehalten, ungefähr an der gleichen Stelle, an die sie die Zeitungs- und Fernsehleute verbannt hatten. Es schien, als hätte jemand einen Schutzwall rund um die Schreckenmühle errichtet.
    Kiefer schickte Henk wieder an die Arbeit. Den verbliebenen Tag verbrachte er hauptsächlich mit Nachdenken. Am Abend setzte er sich in seinen Wagen und fuhr die zweihundert Meter zur Wirtschaft Zum Goldenen Kalb . Er ging durch den langen Gang an der Gaststube und den Toiletten vorbei, wo vergilbte Fotografien von Männern mit Schnauzbärten an den Wänden hingen, die mit einem irren Grinsen im Gesicht auf riesigen Holzschlitten talwärts rasten. Schließlich erreichte er das Hinterzimmer, vor dessen verschlossener Tür ein junger Mann mit Seitenscheitel und Brille in einem Buch las.
    Aus dem Raum hinter der Tür drang gedämpfter Gesang, irgendein deutsches Volkslied, dessen Melodie Kiefer schon einmal gehört hatte, momentan aber nicht zuordnen konnte.
    Sobald er den Besucher erblickte, öffnete der junge Mann die Tür einen Spalt breit und rief etwas hinein. Der Gesang verebbte, die Tür ging weiter auf und Kiefer durfte eintreten. Die Anwesenden, eine Gruppe von acht Männern, hatten Bierkrüge mit Zinndeckeln vor sich stehen. Die letzten Exemplare der Liederbücher, die sie für ihre Probe benutzt hatten, verschwanden unter verschwörerischen Blicken.
    Henk saß in ihrer Mitte, sein einfältiges Grinsen stieß Kiefer ab. Er fand es entwürdigend genug, diesen primitiven Mann, der die Loyalität eines Hundes besaß, gelegentlich in sein Büro zu zitieren oder sich von ihm zur Jagd begleiten zu lassen. Als verlässlicher Partner bei ›Unternehmungen‹ aller Art war Henk auf seine Art unentbehrlich. Aber in diesem Hinterzimmer einer Dorfgaststätte, umgeben von seinen eigenen Speichelleckern, die alle mit gleich wenig Grips gesegnet waren, dafür mit umso mehr dumpfem Hass auf alles Andersartige, fühlte sich Kiefer schutzlos und ausgeliefert. Es half alles nichts – er hatte keine andere Wahl.
    »Scheff! Was für eine Ehre. Sagen Sie bloß, Sie haben plötzlich Ihre Liebe zu altem deutschem Kulturgut entdeckt?«
    Kiefer setzte sich auf einen Stuhl Henk gegenüber. »Können wir alleine reden?«
    »Wir haben keine Geheimnisse voreinander, oder Jungs?«
    Lachen. Henk zündete sich einen Glimmstängel an und musterte Kiefer herausfordernd.
    Kiefer ergriff die Schachtel, die auf dem Tisch zwischen ihnen lag, und steckte sich, ohne zu fragen, eine Zigarette zwischen die Lippen.
    Henk machte ein sorgenvolles Gesicht. »Hast du nicht vor zehn Jahren auf Zigarren umgestellt? Ist was passiert?«
    »Was meinst du mit ›was passiert‹?« Kiefer fixierte Henk mit seinem kalten Blick, während er die Flamme an die Zigarette hielt.
    Henk zog die Schultern ein und sah sich zu seinen Kameraden um. »War nur ’ne Frage, Scheff. Nich bös gemeint.«
    Eine Ewigkeit sprach keiner im Raum. Alle warteten darauf, dass Kiefer das Wort ergriff. Schließlich drückte er die Zigarette aus,

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