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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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Schalen auf einen kleinen Berg, der auf dem Glastisch mit den Besucherzeitschriften angewachsen war.
    »Was sitzt du hier herum?«, pflaumte Kiefer ihn an. »Du weißt, was du zu tun hast. Und räum gefälligst deinen Mist weg.«
    Henk Wawerzinek schob die leeren Schalen grinsend in seine hohle Hand und warf sie in den Mülleimer, der neben der Sitzgruppe stand. Dann machte auch er sich auf den Weg.
    *
    Dreihundert. Fünf. Fünfundsiebzig.
    Willi ruht in seiner Hand, die weichen Federn umschlossen von Rosens schützenden Fingern. Ganz entspannt liegt er da, sein kleines Herz schlägt dreihundert Mal pro Minute. Fühlen kann Rosen das natürlich nicht, er hat es in einem Buch über Wellensittiche gelesen. Fünf Schläge pro Sekunde, rasend wie eine winzige Nähmaschine. Rosens Herz schlägt im Ruhezustand fünfundsiebzig Mal pro Minute, das kann er fühlen. Das sind im Durchschnitt fünfzehn Schläge weniger pro Minute als in den Tagen, bevor die Frau Doktor kam und Ordnung in ihr Leben gebracht hat.
    Zum ersten Mal seit einer Woche ist Rosen heute Morgen ohne Herzklopfen aufgewacht. Ohne schweißnasse Bettwäsche. Ohne Angst, vor die Tür zu gehen.
    Rosen öffnet die Fensterläden, um frische Luft hereinzulassen. Es hat geregnet in der Nacht, aber jetzt fallen orangefarbene Sonnenstrahlen durch die Bäume auf den Waldboden. Das Rauschen der Bäume ist lauter geworden, die Äste schwanken hin und her, wie Arme, die ihn zu sich rufen, statt im Wind zu schaukeln. Der Wald lädt ihn ein.
    Er schlüpft in seine Kleider und misst seinen Blutzucker. Dann steigt er die Treppe hinunter, isst einen Happen zum Frühstück und packt ein paar Sachen zusammen: einen Korb, ein scharfes Gemüsemesser, ein Handtuch. Er setzt eine Kappe auf, schnürt die Bundeswehrstiefel, die Bruno Albrecht ihm mitgebracht hat, und folgt dem Zufahrtsweg hinaus in den Wald. Bei den beiden Polizeiwagen meldet er sein Vorhaben an.
    »Ich möchte Pilze sammeln.«
    Die Polizisten entscheiden, wer ihn begleitet. Kurz darauf wandert Rosen mit einem Beamten im Schlepptau über schlammige Pfade tiefer und tiefer in den Scheelbacher Forst hinein.
    Das Wetter ist günstig für Pilze: Es gibt Rotkappen und Goldröhrlinge, Hallimasche und Maronen, sogar ein paar mickrige Pfifferlinge landen in seinem Korb. Und eine Handvoll Pilze, bei denen er sich nicht hundertprozentig sicher ist. Die soll Tibursky bestimmen, der sich gut mit Pilzen auskennt. Behauptet er wenigstens.
    Der Polizist behält ihn im Auge, bleibt jedoch ein Stück zurück; er telefoniert mit seiner Tochter, die bei seiner Exfrau lebt, wie er Rosen erzählt hat. Die Polizisten sind eigentlich ganz in Ordnung. Sie sind nett und sagen, ihre Arbeit hier sei allemal angenehmer, als am Frankfurter Flughafen Demonstranten wegzutragen.
    Nun haben sie den befestigten Weg verlassen, Rosen lässt sich von seinem Instinkt leiten. Sobald er etwas erblickt, das schmackhaft aussieht, nimmt er den direkten Weg durch das Gehölz. Einmal bückt er sich, hört im Wind etwas über sich knacken, dann ein Rascheln, und neben ihm ins Laub fällt ein leeres Vogelnest, kaum größer als seine ausgestreckte Hand, mit Federn und Plastikfetzen im Geflecht. Der Wind hat es heruntergerissen. Erschrocken springt Rosen zur Seite. Der Polizist hinter ihm lacht. Rosen weiß nicht, ob das Lachen sich auf seine Ungeschicklichkeit bezieht oder auf das Telefonat mit seiner Tochter.
    Es ist beinahe schon Mittag, als der Polizist über Hunger klagt. Der Korb ist gut gefüllt, sie machen sich auf den Rückweg. Kurz bevor sie den Trampelpfad erreichen, der in das Dickicht führt, sieht Rosen aus dem Augenwinkel etwas ungewöhnlich Helles auf dem Waldboden. Es hebt sich deutlich von den dunklen Braun- und Grüntönen ab, die hier vorherrschen.
    Ein Steinpilz, denkt Rosen, heller Fuß unter brauner Kappe. Direkt hinter einem Totholz, einem abgestorbenen Baumstamm, der seine kahlen moosbedeckten Äste in alle Richtungen streckt, als wollte er mit letzter Kraft wegkriechen.
    Der Polizist drängt auf Heimkehr.
    »Nur einen Moment noch«, sagt Rosen, der diesen Schatz bergen will. Der Polizist holt erneut sein Handy heraus. Als Rosen vor dem Totholz steht, sieht er einen Haufen Erde, Blätter, Gestrüpp und Zweige. An der Stirnseite der Erhebung hat der Wind die Blätter und das Gestrüpp fortgeweht; Rosens Blick fällt auf einen menschlichen Fuß.
    Er steht wie versteinert da, starrt die schmutzige Fußsohle an und spürt, wie sich sein

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