Die Voliere (German Edition)
Herzschlag beschleunigt.
»Herr Rosen, kommen Sie?«, hört er seinen Begleiter hinter sich rufen. Rosen sieht zurück. Der Mann hat das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt und tippt mit dem Zeigefinger auf die Uhr.
Rosen hebt den Daumen. Dann scharrt er, seinem Instinkt folgend, Blätter und Erde auf die Stelle, bis der Fuß wieder verschwindet.
»Und? War’s ein Steinpilz?«, fragt der Polizist, als Rosen sich wieder zu ihm gesellt.
»Nein«, antwortet Rosen. »Nur etwas Abgestorbenes.«
Zwanzig Minuten später kommt der Hof in Sicht.
Im Eingang steht Lefeber und blinzelt in die Sonne.
Dienstag, 26. November
Der Paketbote war stinksauer. Eine geschlagene halbe Stunde hatte er sich durchfragen müssen, hatte seinen Transporter mit einem riesigen Fragezeichen im Gesicht über eine holprige Waldpiste gelenkt, bis er endlich im Hof der Schreckenmühle den Motor abstellen konnte. Und zu allem Überfluss hatten die meisten Leute in Scheelbach ihn angeschaut, als sei er verrückt geworden, sobald er ihnen sein Ziel genannt hatte.
Nun hielt er dem Mann mit den auffallend leuchtenden Augen das elektronische Terminal hin. Von der gekritzelten Unterschrift konnte er lediglich das L am Anfang und das R am Ende entziffern.
Als der Paketbote wegfuhr, dachte Lefeber daran, wie Rosen ihn gestern Mittag aufgesucht hatte. Er war völlig außer sich gewesen. Ein menschlicher Fuß habe im Wald gelegen, beinahe hätte der Polizist ihn entdeckt. Der Fuß einer Leiche. Lefeber hatte sich Rosens Geschichte geduldig angehört, hatte ihn für seine umsichtige Reaktion gelobt. Es sei besser, im Moment keine schlafenden Hunde zu wecken. Er hatte zu bedenken gegeben, dass es sich möglicherweise um eine optische Täuschung gehandelt hatte. Und sich gefragt, wie lange eine Leiche im Wald unbemerkt bleiben konnte.
Danach hatte er umgehend die Bestellung aufgegeben, die soeben eingetroffen war.
Zurück im Wohnzimmer, riss Lefeber den Karton auf und holte vier kleine rote Pappschachteln hervor.
FIMO Modelliermasse, ofenhärtend, 10 Normalblöcke, farblich sortiert. Gemeinsam mit einigen Bildern, die er aus Fernsehzeitungen ausgeschnitten hatte, schob er den Stapel zu Tibursky hinüber, der ihm mit neugieriger Miene gegenüber am Tisch saß.
»Kannst du das, Wolf?«, fragte Lefeber.
Tibursky musterte die Ausschnitte. »Könne schon, aber was hast du dademit vor?«
Lefeber hatte Tibursky nichts von der Leiche im Wald verraten oder von dem, was Rosen dafür gehalten hatte. Es war beunruhigend genug, wenn zwei Leute im Haus langsam verrückt wurden. Vor Angst oder aus anderen Gründen.
»Es wird bald vorbei sein mit der Ruhe im Wald. Dann sollten wir vorbereitet sein«, sagte er.
»Solle mer net besser die … da drauße informiere?«
Lefeber ging lachend an ihm vorbei in die Küche.
»Willst du dich allen Ernstes auf die verlassen?«
Tibursky stimmte in sein Lachen ein.
In Lefebers Kopf drehte sich alles.
Er musste sich dringend hinlegen.
*
Gelb. Grün. Rosa. Blau.
Rosen hat das Gefühl, er steht am Ende des Regenbogens; die Farben tanzen um ihn herum durch die Luft. Die bunten Gefieder von Willi, dem namenlosen Kanarienvogel, den Bruno kürzlich als Ersatz für Willi mitgebracht hat, und von Nero, Adams Wellensittich, wirbeln herum und bringen etwas Farbe in den düsteren Tag. Die Sonne hat sich hinter dunkle Wolken verzogen, es kann jeden Moment zu regnen beginnen. Jetzt sind die Vögel Rosens Sonne. Lefeber und er haben die bezugsfertige Voliere betreten und die Türen des kleinen Käfigs geöffnet. Die Tiere flattern hinaus, genießen ihre neu gewonnene Freiheit. Oder was sie im Moment dafür halten.
Nero prallt gegen die Drahthülle der Voliere. Er taumelt, fällt, und einen winzigen Moment lang fürchtet Rosen, er habe sich verletzt. Doch dann fängt er sich und lässt sich auf einem Ast nieder, den Adam und er in der Mitte der Voliere angebracht haben. Das Blau seines Federkleides erinnert Rosen an die Armbanduhr.
Allmählich kommen die Vögel zur Ruhe. Willi und Namenlos nehmen neben Nero Platz und putzen sich. Adam zieht Rosen aus der Voliere, Wolf Tibursky schließt die Tür hinter ihnen. Ein Regentropfen platscht auf Rosens Stirn, dann ein zweiter.
Doktor Winter treibt sie ins Haus, doch bis sie die Eingangstür erreichen, sind alle nass bis auf die Haut. Drinnen verteilt Lefeber Handtücher.
Doktor Winter ist gekommen, um die neue Voliere einzuweihen.
»Wie alt wird so ein Wellensittich eigentlich?«,
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