Die Voliere (German Edition)
weitergeleitet, auf dem sie lediglich ein knappes »Ruf mich zurück. Dringend!« hinterließ. Nervös fing sie an, im Raum auf und ab zu laufen. Der Kollege mit der Handverletzung drehte sich zur Seite und hielt sich das Kissen über das Gesicht. Gideons Saat begann aufzugehen. Ihn noch einmal anzurufen und sein Angebot anzunehmen, dafür war sie zu stolz. Und sich dessen bewusst. Sie musste jemand anderen finden, der Albrecht unauffällig durchleuchtete.
Martin Kanther nahm ebenfalls beim dritten Klingeln ab.
»Schläfst du etwa auch mit dem Telefon neben dem Bett?«, fragte Nora.
»Ich arbeite«, antwortete Kanther entrüstet. »Die GdF und Fraport verhandeln die ganze Nacht über neue Tariflöhne und ich berichte vor Ort. Ich sage dir, Nora, es gibt keinen deprimierenderen Ort auf der Welt als einen wegen Unwetter geschlossenen Flughafen.«
O doch, den gibt es, dachte Nora. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte sie.
»Okay.« Kanther zog das Wort in die Länge wie einen ausgelutschten Kaugummi.
»Ich will alles über einen gewissen Bruno Albrecht wissen, Tierarzt in Bockenheim.«
»Moment, ich schreib’s auf.« Sie hörte ihn herumwerken. »Was ist mit ihm?«
»Das ist der Mann, dem die Unterkunft der drei Sicherungsverwahrten im Spessart gehört.«
Kanther schwieg eine Weile. »Du bist gerade dort, oder?«
»Richtig.«
»Ist etwas passiert?«
»Ja, aber …«
»Krieg ich die Story exklusiv?«
»Es gibt keine Story.«
»Es wird eine geben. Sonst würdest du mich nicht nachts um drei anrufen.«
Nora lachte müde. »Sollte es eine geben, darfst du mich löchern.«
»Exklusiv klingt anders.«
»Bitte, Martin. Kannst du das für mich machen?«
Ein letzter Piepton, dann brach die Verbindung ab. Das Display des Handys verabschiedete sich. Nora drückte ein paar Tasten, aber es blieb tot.
Verdammt – jetzt konnte sie hier sitzen und warten, ohne zu wissen, ob und wann ein Rettungswagen kommen oder ob Martin Kanther ihr den gewünschten Gefallen erweisen würde.
Viertel nach drei. Sie hatte den Eindruck, dass der Sturm nachließ. Nora schlich wieder ins Gästezimmer zurück und legte sich hin. Diesmal schlief sie sofort ein.
Samstag, 30. November
Um acht Uhr am nächsten Morgen hatten sich alle außer dem Polizisten in Rosens Bett, der nach wie vor bewusstlos war, im Wohnzimmer versammelt. Lagebesprechung.
»Wir können nicht länger warten«, sagte Nora. »Der Mann braucht dringend einen Arzt. Außerdem haben wir keinen Strom und kein Telefon, denn der Akku meines Handys ist leer.«
»Es gibt noch ein Diensthandy im Handschuhfach des Einsatzwagens«, sagte der Kollege.
»Na toll, und warum erfahre ich das erst jetzt?«, sagte Nora.
»Sie haben nicht gefragt.«
»Nach unserer Besprechung werde ich das Telefon holen«, sagte Nora.
»Warum kommt der Notarzt nicht?«
»Keine Ahnung. In der Nacht habe ich einen Kollegen angerufen und gebeten, Druck zu machen. Ich selbst bin nicht durchgekommen, die Leitungen waren wegen des Unwetters total überlastet. Vermutlich sind wir nicht die Einzigen, die Hilfe benötigen.«
»Sollen wir ihn nach Scheelbach bringen? Wir können eine Trage bauen«, schlug Rosen vor.
»Ich will nichts riskieren und ich bezweifle, dass der Mann transportfähig ist«, wehrte Nora ab.
»Jemand muss ins Dorf laufen und Hilfe holen«, sagte Lefeber.
»Des kann isch mache«, bot Tibursky an. »Isch kenn einische Weesche, die nebe der Straße verlaafe.«
Der Polizist zog die rechte Augenbraue hoch, sagte aber nichts. So wurde beschlossen, Tibursky ins Dorf zu schicken. Nora und er brachen gemeinsam auf, trennten sich jedoch am Einsatzwagen. Tibursky verschwand im Gestrüpp, um nach Scheelbach zur Telefonzelle zu laufen. Nora fischte das Handy aus dem Auto, wobei sie sich verbiegen musste wie eine Kontorsionistin, um unter dem eingedrückten Dach an das offene Handschuhfach zu gelangen.
Dann hielt sie nach der fehlenden Dienstwaffe Ausschau. Nachdem sie eine halbe Stunde lang alle zugänglichen Ecken und Winkel des demolierten Wagens durchsucht hatte, musste sie aufgeben. Die Heckler & Koch P30 lag weder auf dem Wagenboden noch in der unmittelbaren Umgebung, wie sie gehofft hatte. Dass die Waffe verschwunden war, machte ihr Sorgen. Aber vielleicht war das Ding auch nur an eine für sie unzugängliche Stelle gerutscht.
Zurück im Haus stellte sich heraus, dass nur der bewusstlose Martinez die PIN-Nummer zum Entsperren des Diensthandys kannte. Immerhin hatte
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