Die Voliere (German Edition)
Hand.
»Sie sind an allem schuld!«, schrie Ludwig, der in Kiefers Abwesenheit den Posten des Anführers übernommen und als Erster seine Überraschung überwunden hatte. »Sie haben uns diese Brut hergeschleppt.«
Die Stimmung kochte hoch, mit seiner überraschenden Anwesenheit lenkte Bruno die Wut der Männer auf sich. Der Mob drängte nun in seine Richtung, weg von Rosen und Nora.
Albrecht hob das Gewehr und drückte den Abzug. Ein ohrenbetäubender Knall erfüllte die Luft. Putz und Mörtel rieselten von der Decke. Eine Weile hörte Nora keinen Laut mehr, als wäre sie taub. Sie hielt sich die Ohren zu, genau wie Rosen und die meisten anderen Anwesenden; beißender Qualm stieg ihr in die Nase.
Panik brach aus. Die Leute rannten hinaus wie Ameisen, deren Bau geflutet wurde. Einige strauchelten, doch die Meute verließ fluchtartig das Haus.
Rosen sah seine Chance gekommen. Er stieß Nora zur Seite und riss das Fenster auf. Bevor sie es verhindern konnte, zwängte er sich durch den schmalen Fensterstock nach draußen und ließ sich fallen. Sie stürzte zum Fenster und sah ihm nach. Da sich die erste Etage weniger als drei Meter über dem Boden befand, landete Rosen unversehrt im Hof. Aus der Haustür stürmten die ersten Flüchtenden, unversehens stand der Mann mit dem Beil nur einen Schritt vor Rosen. Langsam richtete er die Waffe auf ihn. Mit einer unheimlichen Leichtigkeit riss ihm Rosen das Werkzeug aus der Hand und rannte damit in den Wald. Aus derselben Richtung drang ein anderes Geräusch an Noras Ohr: das Dröhnen eines Martinshorns. Endlich waren die Hilferufe gehört worden – doch viel zu spät.
Etwas kam auf Nora zugeflogen, in der letzten Sekunde duckte sie sich weg. Eine Glasflasche explodierte auf dem Dielenboden und im gleichen Augenblick stand das Zimmer in Flammen.
Nora tat es Rosen gleich: Sie kletterte aus dem Fenster und sprang in den Hof. Ihre Fußsohlen brannten wie Feuer, als sie sich wieder aus der Hocke aufrichtete. Sie biss die Zähne zusammen und sprintete zur Voliere.
In diesem Moment klingelte irgendwo ein Handy und es dauerte eine Ewigkeit, bis sie realisierte, dass das Geräusch aus ihrer eigenen Tasche kam – es war das Diensthandy, das sie von ihren Kollegen ausgeliehen hatte.
Albrecht stürmte an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Er schien Rosen in den Wald zu folgen. Nora war verwirrt: Warum ignorierte Bruno sie?
Das Handy klingelte unverdrossen weiter. Kanther, Martin informierte sie die Anzeige.
Warum hatte Kanther die Unart, sich immer im unpassendsten Moment zu melden? Sie ließ das Handy wieder in die Tasche gleiten. Erneut gab das Handy einen Ton von sich, diesmal war es eine SMS, ebenfalls von Martin Kanther. Die Nachricht war gleichermaßen knapp wie beunruhigend: Ich weiß, wer Albrecht ist. Ruf zurück. Dringend!
Mit zitternden Fingern wählte Nora Martin Kanthers Nummer.
*
Tobin Kiefer lehnte ächzend an einer Buche und rieb sich den Knöchel. Zu dem Stechen im Gelenk kam noch eine unerklärliche Taubheit, die vor wenigen Augenblicken seinen linken Arm befallen hatte. Weit war er nicht gekommen, seit er sich mit Kowalski angelegt hatte und aufgebrochen war, um Hilfe zu holen. Kiefer öffnete und schloss wiederholt die linke Hand, aber das Taubheitsgefühl weigerte sich, zu verschwinden. Ihm war schlecht und sein Mund war staubtrocken, vermutlich hatte er sich überanstrengt. Besser, er setzte sich einen Moment hin und verschnaufte.
Von weiter Ferne drangen Geräusche herüber, die perfekt zu dem Chaos im Scheelbacher Forst passten: Schreie, das Splittern von Glas, ein Schuss, eine Explosion. Die Aktion war komplett aus dem Ruder gelaufen. Sie jagten die Männer wie Ungeziefer und machten dabei das Haus, in dem er geboren und aufgewachsen war und das er um jeden Preis hatte zurückgewinnen wollen, dem Erdboden gleich. Nun konnte er froh sein, wenn er lebend aus dem Wald und aus der Sache herauskam. Hätte dieser Albrecht doch damals nur auf ihn gehört.
Sich selbst hatte er nichts vorzuwerfen – nein, er hatte das Richtige getan, wenn auch aus Gründen, die nur ihn etwas angingen. Diese Männer waren Abschaum, Ungeheuer, die das Dorf und seine Bewohner vergifteten. Vielleicht hatten sie sogar ihn vergiftet, denn für die Frevel, die er begangen hatte, gab es keine andere Erklärung.
Er bedauerte nur, dass er dem Tierarzt und seinen drei Störenfrieden nicht persönlich gegenübertreten konnte. Zu gerne hätte er Albrechts Gesicht
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