Die Voliere (German Edition)
Er wollte nicht hinsehen, doch wurde das Bedürfnis, Sicherheit zu erhalten, ob seine Vermutung richtig war, übermächtig. Der Glatzkopf – derselbe, der ihn gemeinsam mit dem Fettwanst im Wald gejagt, der sie mit seinen Kumpanen bedroht und ihnen vermutlich auch die brennende Papiertüte vor die Haustür gelegt hatte – machte ein paar Schritte darauf zu, blieb dann jedoch abrupt stehen.
»Der Gestank ist zum Kotzen. Da sind bestimmt Schlachtabfälle drin oder so.«
»So ist das eben, Kamerad. Der Krieg riecht nicht nach Rosen.«
Als Henk keine Anstalten machte, etwas zu unternehmen, schrie der Anführer einen Befehl durch den Raum, der allen Anwesenden in den Ohren gellte: »Jetzt schneid endlich die Scheißsäcke auf!«
Henk stach mit einem großen Jagdmesser in die blaue Folie. Der Verwesungsgestank steigerte sich ins Unerträgliche. Henk hastete in eine andere Ecke und übergab sich.
»Was seid ihr nur für verdammte Memmen!«, brüllte die Bulldogge. Mit wenigen Schritten war er bei den Säcken und schnitt sie auf. Der Inhalt, durch die Tüten zusammengehalten, quoll heraus: blutverschmierte Gliedmaßen, zerrissene Kleidung, Haare, ein Frauentorso. Der Bulldogge schien das nichts auszumachen. Mit der Stiefelspitze drehte er den Torso auf den Rücken, sodass Tibursky das Gesicht, oder was davon noch übrig war, erkennen konnte.
Aus seiner Kehle löste sich ein Schrei der Verzweiflung.
»Das ist Tobins Frau«, schrie der Glatzkopf hysterisch aus seiner Ecke. »Das ist Anna Kiefer. Der Typ hier hat sie auf dem Dorffest belästigt.«
»Und jetzt hat er sie wohl auch noch umgebracht«, entgegnete die Bulldogge trocken. Der Kerl packte Tibursky am Kragen, kam drohend näher. Sein fauliger Atem war fast noch widerwärtiger als der Leichengestank.
»Du weißt doch, was auf Mord steht?«
»Des war isch net!«
Die Bulldogge bellte ein heiseres Lachen, dann winkte sie einen Kameraden herbei.
»Hol ein Seil. Mindestens fingerdick. Mindestens drei Meter lang. An dem hier statuieren wir jetzt mal ein Exempel.«
Der Kamerad nahm die Treppe – zwei Stufen auf einmal. Wenige Augenblicke später kehrte er mit einem zusammengerollten orangefarbenen Spanngurt zurück.
Die Bulldogge nickte zufrieden.
Und Tibursky schrie, schrie um sein Leben.
*
Lefebers Zimmer platzte aus allen Nähten. Die Scheelbacher drängten sich um Rosen und beäugten ihn wie ein seltenes Wild, das ihnen nach langer Hatz endlich ins Netz gegangen war. Da sowohl Kiefer als auch Wawerzinek verschwunden waren, wartete jeder darauf, dass einer aus der Gruppe die Initiative ergriff.
Ludwig riss das Tuch von einer der beiden Staffeleien und das Bildnis des nackten Jünglings mit den rotblonden Locken kam zum Vorschein. Ein Aufschrei ging durch die Menge – es war ganz eindeutig der nackte Timm, der sie von der Leinwand lasziv anlächelte.
Schon richteten die Ersten ihre Waffen auf Rosen.
»Wo ist er?«
»Was hast du mit ihm gemacht, du Monster?«
Eine Messerklinge schnitt nur Zentimeter von Rosens Gesicht entfernt durch die Luft; vor ihm der Mob, hinter ihm die Schranktür, da blieb kein Millimeter, um zurückzuweichen.
Just in diesem Moment stürmte Nora Winter in den Raum und zwängte sich zwischen den alkoholisierten und aufgebrachten Männern durch. Sie drückte die Hand mit dem erhobenen Messer nach unten; nun stand sie zwischen Rosen und dem Dorf.
»Verlassen Sie das Haus. Sofort!«
»Er soll Timm herausrücken«, lautete die trotzige Antwort.
»Gibt es hier im Haus einen Timm?«, wollte Nora von Rosen wissen. Der schüttelte eingeschüchtert den Kopf.
»Meine Kollegen von der Polizei müssen jede Sekunde eintreffen«, flunkerte sie. »Falls Sie dann noch hier sind, lasse ich jeden Einzelnen von Ihnen in Gewahrsam nehmen. Sie verbringen die Nacht auf der Wache und riskieren eine Anzeige wegen Nötigung und Hausfriedensbruch.«
Der eine oder andere suchte verunsichert den Blick seines Nachbarn. Doch die aufgeheizte Atmosphäre blieb, niemand verließ das Zimmer.
»Kommen Sie, Rosen.«
Nora fasste ihn an der Hand und versuchte, ihn Richtung Tür zu bugsieren, aber vor ihr schlossen sich die Reihen.
»Hauen Sie ab«, sagte Ludwig mit Eiseskälte in der Stimme. »Überlassen Sie Rosen uns. Wenn wir mit ihm fertig sind, wird er uns schon verraten …«
»Augenblicklich runter von meinem Grund und Boden!«, brüllte eine Nora wohlbekannte Stimme aus dem Flur. Im Türrahmen erschien Bruno Albrecht. Er hielt ein Gewehr in der
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