Die Voliere (German Edition)
zumarschierten, lauter. Vor wem er auch floh, er lief seinen Verfolgern so oder so in die Arme. Resigniert lehnte er sich an die kühle Mauer. Etwas knallte auf der Innenseite des Tunnels gegen die Tür. Das Holz erzitterte unter der Erschütterung, Staub aus den Ritzen wirbelte auf und brannte ihm in den Augen. Es konnte nur noch wenige Minuten dauern, bis sie die Tür aufbrechen und über ihn herfallen würden.
Eine merkwürdige Ruhe legte sich über Wolf Tibursky, jetzt wo er wusste, dass seine Reise in die Freiheit ein unwiderrufliches Ende fand. Er fragte sich, was sie mit ihm anstellen würden. Es war ihm gleich, solange es nur schnell ging.
Offensichtlich war die Tür stabiler als erwartet. Eine Weile krachte es noch, dann hörte der Lärm auf der anderen Seite von einem Moment zum anderen auf. Man gewährte ihm also eine Gnadenfrist.
Tibursky löste sich von der Wand und ging auf etwas zu, das seine Aufmerksamkeit erregte: In der gegenüberliegenden Ecke lagen zwei blaue Plastiksäcke; sie waren es auch, die den widerlichen Gestank verströmten.
Vor den Säcken lag etwas Glänzendes auf dem Boden, reflektierte das fahle Licht, das von einer Birne an der Decke ausging. Er ging in die Hocke, hob es auf und hielt es unter die Lampe.
Es war ein goldenes Kreuz. Mit einem Dutzend roter Granatsteine besetzt.
*
Nora und Schöne hielten direkt neben der Eingangstür der Voliere die Stellung. Die toten Vögel waren verschwunden, Rosen hatte sie heute am frühen Morgen begraben.
In einem unerbittlichen Takt setzte der Mob einen Fuß vor den anderen, bis er ihnen Auge in Auge gegenüberstand. Die Parolen waren verstummt, niemand sagte ein Wort.
Schöne öffnete sein Holster, um die Waffe zu ziehen, die Lefeber ihm erstaunlicherweise gelassen hatte, aber Nora schüttelte den Kopf. Er knöpfte das Holster wieder zu.
Sie trat den Scheelbachern gegenüber. »Gehen Sie wieder nach Hause. Die Männer haben Ihnen nichts getan, Ihre Angst ist absolut unbegründet.«
Man warf sich unsichere Blicke zu.
»Wo ist Kiefer?«, fragte jemand.
»Beim Pinkeln«, kam die Antwort und ein paar lachten.
»Wir wollen Timm zurück und wir holen ihn jetzt da raus«, sagte ein Schmächtiger mit randloser Brille, der so aussah, als würde er seinen Arbeitstag über Aktenordner und Anträge gebeugt verbringen.
Nora und Schöne sahen sich verwirrt an. Wer war Timm?
»Hören Sie, in der Schreckenmühle ist niemand außer den drei Männern, die ich betreue, und unserem Kollegen, der durch den Sturm verletzt wurde. Sie können uns helfen, den Mann ins Dorf zu bringen.«
»Diese Kerle lügen und betrügen. Die führen Sie genauso hinters Licht wie uns«, sagte ein anderer, der eine Mistgabel in die Luft reckte.
Jemand schrie »Weiter!« und bevor Nora es verhindern konnte, setzte die Gruppe sich erneut in Bewegung. Nun begannen auch wieder die üblichen Schlachtrufe: »Raus aus Scheelbach, raus aus Scheelbach!«
Nora hatte den Eindruck, dass die angetrunkenen Männer selber nicht mehr genau wussten, ob sie gekommen waren, um zu protestieren oder diesen ominösen Timm zu finden.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir beide durchsuchen mit zwei Männern aus Ihrer Gruppe das Haus vom Keller bis zum Dach …«
Doch niemand hörte zu. Unbeeindruckt marschierten sie an den Polizisten vorbei auf das Haus zu, skandierten ihre Parolen. Als sie kurz vor der Haustür angelangt waren, sagte Nora zu Schöne: »Geben Sie einen Warnschuss ab.«
Schöne entsicherte die Heckler & Koch P30, hob sie mit der unverletzten Hand hoch über den Kopf und schoss in die Luft.
Die Männer drehten sich erschrocken um.
»Weg vom Haus!«, befahl Nora. Und als der Aufforderung nicht umgehend Folge geleistet wurde, wiederholte sie diese. In dem Moment drang ein markerschütternder Schrei aus der Mühle zu ihnen herüber. Entsetzt sahen Nora und Schöne sich an.
»Gehen Sie nachsehen, was passiert ist«, sagte Nora. »Ich kümmere mich um die Leute.«
Schöne sprintete zum Eingang des Mühlengebäudes.
Just in dem Moment, als sich Nora wieder dem Mob zuwenden wollte, brach die Haustür knirschend aus den Angeln. Der Schrank, der sie von der Innenseite verbarrikadierte, rutschte mit jeder Welle des Ansturms weiter in die Diele hinein. Schließlich ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen. Der Schrank war umgekippt. Die Speerspitze der Truppe kletterte über den Scherbenhaufen. Die Nachhut folgte.
Die Scheelbacher stürmten das Haus.
*
Eins, zwei, drei, vier,
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