Die Voliere (German Edition)
gesehen, wenn die drei vor dem geballten Zorn der Scheelbacher mit eingekniffenem Schwanz das Weite suchten.
Kiefer zitterte, gleichzeitig rann ihm Schweiß in die Augen. Seine Brust war wie eingeschnürt, sodass er kaum atmen konnte. Er musste weiter! Doch seine Beine versagten ihm den Dienst. Er musste sich an der Baumrinde festhalten und hochdrücken, Stück für Stück, bis er endlich auf wackeligen Knien stand.
Als er hochblickte, sah er einen Mann vor sich, der den Mund öffnete und etwas zu sagen schien, aber das Rauschen in Kiefers Ohren übertönte jedes andere Geräusch. Kiefer war groß, aber der andere, ein Riese mit traurigen Augen, überragte ihn um Haupteslänge.
Tobin Kiefers Gesichtsfeld verengte sich mit jeder Sekunde, an den schwarzen Rändern tauchte ein Schatten auf. Der Riese hielt etwas in der Hand – eine Axt. Der Schaft aus hellem Holz, der Rest aus dunkelblauem Metall; dort, wo die Wange in das Blatt überging, nur noch blanker Stahl. Der Riese schien sich zu entfernen, doch nun erkannte er: Es war nur die Axt, die sich entfernte, wie in Zeitlupe. Der Riese hob sie hoch über seinen Kopf.
Das Letzte, was Tobin Kiefer spürte, war ein rasender Schmerz, der seinen Brustkorb wie ein Blitzschlag spaltete.
Dann versank die Welt ringsum in gleißendem Licht.
*
Eins, eins.
Der Bruno Albrecht, der nun vor Rosen steht und mit dem Gewehr auf seine Brust zielt, hat nichts mit dem Mann zu tun, mit dem er in der JVA Freundschaft geschlossen hat. Er ist nicht der Mensch, der ihm Willi und den anderen Vogel geschenkt hat – den, der nicht lange genug gelebt hat, um einen richtigen Namen zu bekommen.
Dieser Bruno Albrecht ist furchtbar zornig. Seine Lippen sind schmal und weiß und seine Augen sprühen vor Mordlust. Wie es aussieht, wenn jemand in den Rausch gerät, einen Menschen zu töten, weiß Rosen nur zu gut.
Bruno sagt, seine Geduld sei erschöpft. Rosen solle ihm endlich verraten, wo sie ist. Er brüllt wie der Wookie, wenn er richtig sauer ist. Rosen befürchtet, er drückt jeden Moment ab und brennt ihm ein Loch in den Pelz – ein kleines vorne und ein großes auf der Rückseite. Tut er aber nicht.
Denn jetzt, wo die anderen beiden seit fast dreißig Jahren tot sind, ist Rosen der Einzige, der noch wissen kann wo SIE ist. Darüber ist Bruno sich im Klaren. Wenn Rosen tot ist, kann nur Kommissar Zufall SIE finden.
Also stellt Rosen eine Forderung.
Bruno verliert die Fassung.
Aber er geht darauf ein.
*
Sie konnten überall lauern. Zwar war das Blattwerk jetzt im Herbst lichter, aber die vielen Erhebungen und Senken im Waldboden behinderten die freie Sicht. Nora wischte sich den Schweiß von der Stirn, sie hatte die ungefähre Richtung eingeschlagen, in die Albrecht und Rosen getürmt waren. Ein schriller Schmerzensschrei, der aber genauso gut von einem Tier stammen konnte, war ihr einziger Anhaltspunkt gewesen.
Seit vor einigen Minuten das Kreischen der Motorsägen eingesetzt hatte, fielen weitere Geräusche als Orientierungshilfe komplett aus. Nora stolperte durch das Dickicht, orientierte sich an umgeknickten Schösslingen, einmal hing sogar ein Fetzen Stoff an einer Astspitze. Die Motorsägen legten eine Pause ein. Nicht weit entfernt vernahm sie ein rhythmisches Klopfen, als hacke jemand Holz.
Nora lief auf das Geräusch zu und entdeckte endlich, kaum hundert Meter von ihr entfernt, Brunos Gestalt, die an einem Baum lehnte. Er hatte sein Gewehr auf Rosen gerichtet, der mit einer Axt auf etwas einschlug, das am Boden vor ihm lag. Bruno rührte sich nicht. Die Schneide der Axt triefte vor Blut.
»Bruno!«
Er sah sie überrascht an, endlich schien er aus seiner Trance zu erwachen. »Weg mit der Axt, sofort!«, befahl er Rosen, der innehielt, bevor er die Axt mit einem dumpfen Poltern auf den Waldboden fallen ließ und die Hände hob. Gesicht und Hände waren mit Blut besudelt.
Nora rannte zu Bruno. »Gib mir die Waffe.«
Er reichte sie ihr ohne Gegenwehr.
Nora prüfte das Magazin, es befanden sich noch Kugeln darin. Sie richtete die Waffe auf Rosen.
»Gehen Sie ein paar Schritte da hinüber, Rosen. Setzen Sie sich auf den Boden und legen Sie die Hände in den Nacken – so, dass ich sie sehen kann.«
Er tat wie geheißen. Unter Aufstöhnen ließ er sich nieder.
Mit bedächtigen Schritten ging Nora zu der Stelle, an der sich Rosen zu schaffen gemacht hatte. Dort lag ein menschlicher Körper ausgestreckt auf dem Bauch, Arme und Beine grotesk verdreht. Wo der Kopf hätte
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