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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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Anspannung löste und ihr ein Lächeln entlockte, »… ähm, ob Sie vielleicht Lust haben, mit mir abends mal etwas trinken zu gehen. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen.« Dann diktierte er die Nummer seines Handys.
    »Der klang doch ganz nett.«
    Erschrocken fuhr Nora herum. Ceyda schlürfte lautstark ihren Kaffee. Nora spürte, wie sie rot wurde.
    »Jedenfalls netter als der Kerl, den ich heute in der Mangel hatte.«
    »Was war mit dem?«, wollte Nora wissen.
    Die beiden Frauen setzten sich an den Küchentisch.
    »Der Kerl liegt schon eine ganze Weile auf der Intensiv, mit Kehlkopfkrebs. Er hat jetzt einen Stimmenverstärker erhalten, so ein Ding, bei dem die Stimme wie bei einem Roboter klingt. Der Typ ist wegen seiner sexuellen Anzüglichkeiten berüchtigt und mit Vorsicht zu genießen. Ich schlag ihm also das Bett auf, kontrollier die Werte, da packt er mich am Arm und zieht mich zu sich hin; und dann sagt der doch glatt mit seiner schnarrenden Stimme ›Holst du mir einen runter?‹«
    Nora schlug die Hand vor den Mund.
    »Ich dachte, ich hab mich verhört!«, empörte sich Ceyda.
    »Und wie hast du reagiert?«
    »Ich hab ihm eine Chance gegeben. ›Was haben Sie gesagt?‹, habe ich gefragt. Doch statt sich zu entschuldigen, sagt der Idiot nochmals: ›Holst du mir einen runter?‹«
    »Und, hast du?«, feixte Nora.
    »Klar. Ich hab dem Scheißkerl das Sprechgerät runtergeholt. Ab dann herrschte Stille.«
    »Wieso?«
    »Ich hab dem Stationsarzt gesteckt, dass der Patient aggressiv geworden ist. Daraufhin hat er angeordnet, dass ihm Hände und Füße fixiert werden.« Ceyda grinste. »Jetzt kann er nicht mal mehr selber Hand an sich legen, dieser Wichser. Wo wir gerade bei dem Thema sind …« Ceyda verließ die Küche und kehrte mit einem Stapel Computerausdrucke zurück. »Hier sind ein paar ganz heiße Kandidaten. Schau dir doch die Profile mal an und sag mir, was du von denen hältst.«
    »Glaubst du wirklich, ich kann die Typen von deinen Datingportalen besser beurteilen als du selbst?«
    »Du bist doch die Psychologin, oder etwa nicht?«
    »Deswegen kann ich auf der Grundlage einer Oben-ohne-Selbstdarstellung noch lange kein psychologisches Gutachten erstellen.«
    Sie beugte sich vor und zog ein Blatt heran. »Der hier sieht nett aus.«
    »Studiert Psychologie.«
    »Okay, kommt schon mal gar nicht infrage.«
    Ceyda lachte. »Du musst es ja wissen. Brrrrruno Albrecht«, ließ sie seinen Vornamen über die Zunge rollen. »Dein Kavalier ist aber nicht schon über siebzig und Großvater?«
    Noras Anspannung kehrte zurück. »Siebzig nicht. Ein bisschen älter als ich schon.«
    »Jetzt stell dich nicht so an, Nora. Der hatte doch eine sehr sympathische Stimme. Und du hättest ihm ja nicht so ohne Weiteres deine Nummer gegeben.«
    »Das ist ja das Eigenartige. Die Telefonnummer hat er nicht von mir.«
    Mittwoch, 16. Oktober
    Die drei Aktenordner, die Schreyer an Nora bei ihrer ersten Besprechung ausgehändigt hatte, waren nur ein Vorgeschmack auf die mehr als zweihundert Ordner, die zu jedem ihrer drei Probanden in den Archiven der hessischen Polizeibehörden lagerten. Polizeiakten, Prozessakten, Sachverständigenberichte, Berichte aus Berufungsverhandlungen, Verhaltensbeurteilungen aus der JVA, Memos der Bewährungshelfer, Antworten des Gerichts, Schreiben des Justizministeriums, Heiratsanträge verwirrter Frauen mit Helfersyndrom – erstaunlicherweise erhielt Lefeber, den alle Gutachter ausnahmslos für einen sexuellen Sadisten hielten, die meisten Liebesbekundungen – sowie Pressemappen mit den gesammelten Artikeln der letzten fünfundzwanzig Jahre.
    Schreyer hatte drei deckenhohe Regale in ihrem Büro installieren lassen, um all die Ordner unterbringen zu können. Wenn Nora schlaftrunken um sechs Uhr morgens im Büro auftauchte, und wenn sie es um elf Uhr nachts erschöpft verließ, fiel ihr erster und ihr letzter Blick auf eine Aktenwand, die nicht nur äußerlich erdrückend war. Nach eineinhalb Wochen begann sie, Ritalin zu nehmen, das ihr ein befreundeter Psychiater besorgte – ein Medikament, das zappeligen Kindern gern gegen die Symptome von ADHS verschrieben wurde, bei gesunden Erwachsenen aber eine Leistungssteigerung auslöste.
    Ihr war bewusst, dass sie keine zweieinhalb Wochen mehr hatte, um die Gutachten fertigzustellen, aber bis dato höchstens ein Viertel der Akten sichten konnte. In diesem Tempo würde sie es nie schaffen. Und je tiefer sie sich in die Akten vergrub, umso klarer

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