Die Voliere (German Edition)
falls überhaupt, sehr dezent geschminkt. Auch die randlose Brille hatte sie auf dem Foto, das Nora aus dem Jahr 1992 vorlag, nicht getragen.
Franke trug ein breites Seidenhalstuch. Es wirkte seltsam deplatziert zu dieser Tageszeit und in dieser Umgebung, einem heruntergekommenen Mietshaus in einer Nebengasse der Leipziger Straße. Eine Katze huschte hinter Nora die Treppe hinauf, es roch nach gebratenen Zwiebeln und Knoblauch, Kinderstimmen tönten vom Nachbarhaus herüber.
Franke stand in der offenen Tür und sah Nora neugierig an; hinter ihr verschwand ein Teenager mit kupferroter Lockenmähne und Handy am Ohr mit lautem Türknallen in einem der Räume.
»Guten Tag, Frau Franke. Nora Winter von der Polizei. Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?«
Die Frau verzog keine Miene, sondern griff hinter die Tür, angelte Jacke und Schlüssel und rief mit Blick über die Schulter, sie sei gleich wieder da. Als Reaktion öffnete sich eine Tür, ein Mann lugte heraus und fragte mit besorgtem Blick, ob alles in Ordnung sei.
»Alles bestens«, beruhigte Franke ihn. »Gehen wir doch ein Stück«, forderte sie Nora auf. Ihre Stimme klang seltsam heiser.
Die beiden Frauen gingen schweigend die Leipziger Straße entlang. Immer wieder begegnete Franke Freunden oder Bekannten, man grüßte sich knapp.
»Ich bin froh, dass Sie endlich kommen«, sagte Franke zu Noras Verwunderung, nachdem sie ihren Weg eine Weile unbehelligt fortgesetzt hatten.
»Adam Lefeber wird freikommen, nicht wahr? Ich habe es in der Zeitung gelesen.«
»Macht Ihnen das Sorgen?«
Franke blieb stehen und sah Nora an. Sie lächelte. »Jetzt, wo Sie da sind, nicht mehr.«
Nora fragte sich verwirrt, was Franke von diesem Gespräch erwartete. Sie nahmen ihren Spaziergang wieder auf.
»Sie müssen bitte nur so unauffällig wie möglich vorgehen. Mein Mann und meine Kinder dürfen absolut nichts davon mitbekommen. Meine Tochter macht sich sehr große Sorgen um mich.«
Nora fröstelte. »Was meinen Sie mit ›vorgehen‹, Frau Franke?«
»Na, Ihre Überwachungsaktion. Personenschutz, oder wie Sie das bei der Polizei nennen.«
»Frau Franke, ich fürchte, hier liegt ein Missverständnis vor.«
Die Frauen blieben erneut stehen. Nora holte tief Luft. Ihr gefiel überhaupt nicht, in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickelte. Sie würde die Bombe gleich hochgehen lassen.
»Ich bin Psychologin. Ich soll ein Gerichtsgutachten über Adam Lefeber erstellen. Er ist es auch, der überwacht werden soll, sobald er sich in Freiheit befindet.«
Franke starrte Nora fassungslos an, ihre Miene versteinert. »Ich fasse es nicht. Sie wollen Lefeber bewachen? Um ihn vor dem aufgebrachten Mob zu schützen? Und wer schützt mich vor diesem …« Sie stockte. »Und meinen Mann und meine Kinder?«
»Lefeber wird von der Polizei überwacht. Er bekommt hohe Auflagen, vermutlich wird er sich Ihnen und Ihrer Familie nicht nähern dürfen. Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass Sie ihm …«
»Auflagen – da kann ich doch nur lachen! Als ob er sich an so etwas halten würde. Das mit dem Drohbrief wissen Sie, oder?«
Nora nickte.
Franke schien einen Moment zu überlegen. Sie sah sich um, die nächsten Passanten waren ziemlich weit entfernt. Dann knotete sie das Halstuch auf und nahm es ab.
Die rote Linie, etwa zwei Millimeter breit, zog sich fast über den gesamten Hals. Das Narbengewebe war wulstig, bei genauerer Betrachtung konnte man an den Stellen, an denen der Schnitt vernäht worden war, die Einstiche erkennen.
»Reicht es nicht, was er mit den beiden Jungen und mir gemacht hat? Lernen Sie nichts aus der Vergangenheit?«
»Ich kann verstehen, dass Sie erregt sind, Frau Franke. Lefebers Freilassung ist ein juristisches …«
»Wissen Sie, was mich am meisten aufregt, Frau Winter? Dass es immer nur um den Täter geht. Lefeber hier, Lefeber da. Ich habe von Ihnen noch kein einziges Mal das Wort ›Opfer‹ gehört. Adam hat zwei Jungen getötet. Die Familie zerstört. Die Ehe der Eltern ist in die Brüche gegangen, die Mutter hat mehrere Suizidversuche hinter sich und befindet sich in einer psychiatrischen Klinik. Ich habe zwei Jahre lang an einer Verhaltenstherapie teilgenommen, bis ich endlich wieder eine Schule betreten konnte. Und Sie stehen hier vor mir und reden nur von Lefeber.«
Nora beschloss, zu warten, bis die Frau ihrer Wut Luft gemacht hatte. In ihrem jetzigen Zustand war an ein sachliches Gespräch nicht zu denken.
Franke holte tief Luft. Dann
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