Die Voliere (German Edition)
wurde ihr, dass das Wesen eines Menschen nicht einmal ansatzweise aus Befragungsprotokollen und Persönlichkeitsanalysen zum Vorschein kam. Insbesondere bei Analysen, die wie bei Lefeber, Rosen und Tibursky hauptsächlich unter Zuhilfenahme von Computerprogrammen oder Sekundärquellen angefertigt worden waren.
Bei der Durchsicht der bisherigen Gutachten fiel immer wieder ein bestimmter Name: Professor Doktor Ernst Schröder, inzwischen Emeritus der Frankfurter Goethe-Universität, hatte in den Achtzigerjahren das Institut für Forensische Psychiatrie in Frankfurt etabliert und dieses innerhalb von zehn Jahren zu einiger Bekanntheit geführt. In Kooperation mit IBM und einer Frankfurter Großbank hatte er eine hochkomplexe Prognosesoftware entwickelt, die es erlaubte, anhand eines Kataloges von Risikofaktoren die statistisch zu erwartende Gefährlichkeit von Straftätern zu ermitteln. Die Software basierte auf einem System, das IBM ursprünglich für das Risikomanagement von Hedgefonds entwickelt hatte, und das Kernstück des Systems, der Faktorenkatalog, wurde von Schröder gehütet wie ein Schatz. Ein Schatz, der ihm jedes Jahr beträchtliche Summen aufs Konto spülte.
Trotz seines Erfolgs wurde der Professor außerhalb des Gerichtssaals von seinen Kollegen belächelt. Für die meisten Fachkollegen galt es als unseriös, die Beurteilung der Psyche eines gestörten Straftäters fast ausschließlich auf die Ergebnisse eines Computerprogramms zu gründen. Außerdem witzelte man, wozu Schröder die Software überhaupt brauche: immerhin habe er in seiner aktiven Zeit ohnehin bei neunundneunzig Prozent der Probanden Sicherungsverwahrung auf unbestimmte Zeit empfohlen. Auf diese Quote könne ein geistig gesunder Sachverständiger auch ganz ohne einen Computer kommen.
Und dann kursierten noch Gerüchte über Schröders Privatleben. Über Zudringlichkeiten gegenüber Studentinnen beispielsweise.
Für die Richter und Staatsanwälte jedoch hatte sich Schröder als ein verlässlicher Zuarbeiter erwiesen: Seine erwartbaren Prognosen, auf kalter Logik gründend, hatten die Gefahr reduziert, jemanden irrtümlich freizulassen. Und damit auch die Gefahr, dem eigenen Namen und Foto irgendwann auf der Titelseite der BILD-Zeitung zu begegnen: Dieser Richter ließ das Monster frei!
Schröder war auch für Nora kein Unbekannter. Sie hatte an der Uni ein Fallseminar über die Praxis der forensisch-psychiatrischen Begutachtung bei ihm belegt. In Noras letztem Semester hatte sich ihr eine Kommilitonin aus diesem Seminar anvertraut, die wusste, dass Nora Polizistin war. Sie hatte durchblicken lassen, dass sie um ein Haar von einem ihrer Dozenten vergewaltigt worden war. Zwar hatte sie Schröders Namen nie genannt, aber Nora hatte auch so gewusst, von wem sie redete. Die junge Frau wollte wissen, welche Mechanismen sie mit einer Anzeige in Gang setzen würde. Was das für seine Karriere bedeutete – rein hypothetisch natürlich. Nora hatte der Kommilitonin geraten, sich darüber keine Gedanken zu machen und Strafantrag zu stellen. Schon der Versuch einer Vergewaltigung sei strafbar und absolut nicht hinzunehmen, unter keinen Umständen. Auch nicht, wenn eine Seminarnote oder gar eine Wissenschaftskarriere davon abhing. Nach dem zweistündigen Gespräch auf einer Parkbank im Riederwald hatte Nora die Kommilitonin nie wieder gesehen. Weder in Schröders Seminar, noch überhaupt an der Frankfurter Uni. Dem Professor war Nora nach Ende des Fallseminars ebenfalls nicht mehr über den Weg gelaufen.
Bis sie heute seine Unterschrift unter den drei Gutachten gelesen hatte.
Sie würde ihren ehemaligen Professor befragen.
Und während sie den Blick noch einmal über die endlos lange Aktenwand wandern ließ, fasste sie den Entschluss, das Aktenstudium auf die Durchsicht der Gefährlichkeitsgutachten zu beschränken. Die gewonnene Zeit würde sie für Gespräche mit den Häftlingen sowie mit dem Gefängnispersonal einsetzen, das mit den Männern direkten Kontakt gehabt hatte. Eine Prognose über die Gefährlichkeit von Adam Lefeber, Heinz Rosen und Wolfgang Tibursky gründete sich am zuverlässigsten auf ihrem Verhalten im Gefängnisalltag.
Doch zuerst musste sie einer ganz bestimmten Person einen Besuch abstatten.
Donnerstag, 17. Oktober
Ina Franke trug inzwischen eine Kurzhaarfrisur. Obwohl sie schon auf die fünfzig zuging, war in ihren roten Haaren keine einzige silberne Strähne zu entdecken. Vielleicht half sie mit Chemie nach. Sie war,
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