Die Voliere (German Edition)
Einschätzung nach …«
»Kein Kommentar.« Nora rannte zum Auto. Hinter ihr ächzte der Kameramann, der die schwere Ausrüstung auf seiner Schulter herumschleppte.
Im Laufen entriegelte sie bereits die Türen des Mini, warf die Akten auf den Beifahrersitz, klemmte sich hinters Steuer und brauste los.
Der Scheinwerfer, der auf der Fernsehkamera montiert war, blendete im Rückspiegel. Nora überlegte, sich von ihrem Vater einen guten Rechtsanwalt empfehlen zu lassen. Sollte ihr Kennzeichen auch nur ansatzweise im Fernsehen zu erkennen sein, würde sie den Sender verklagen. Und sich vom Schmerzensgeld ein neues Auto kaufen. Was vermutlich völlig sinnlos war, weil jetzt bereits halb Hessen wusste, wie sie hieß und aussah.
Schwalmstadt war von Frankfurt etwa hundertdreißig Kilometer entfernt, das gab Nora Zeit genug, um sich klar zu werden, was Broussier mit seinem Verhalten bezweckte. Doch sie musste nicht lange überlegen. Als sie Gießen erreichte, kamen die Nachrichten des Hessischen Rundfunks und im Anschluss ein Bericht über die anstehenden hessischen Landtagswahlen. Kandidat der Konservativen und aussichtsreicher Anwärter für den Posten des Innenministers war Dr. Alexander Broussier. Er galt als ›harter Hund‹.
Broussier spielte im Wahlkampf also vordergründig den starken Mann, während er sich hinter den Kulissen in das Unvermeidliche fügte. Man musste kein Politikwissenschaftler sein, um zu verstehen, warum Politiker ein so schlechtes Image in der Bevölkerung hatten. Für Männer wie Broussier war eine öffentliche Verlautbarung keine Meinungsäußerung, sondern eine reine Werbemaßnahme, die man im nächsten Moment nach Bedarf durch einen anderen Spruch ersetzte. Und die Leute, die bei all den Themen schon längst den Durchblick verloren hatten, nahmen diese Doppelzüngigkeit widerspruchslos hin.
Die Fahrt nach Frankfurt dauerte wenig mehr als eine Stunde. Aufgrund des Feiertags am Donnerstag mit anschließendem Brückentag herrschte auf den Straßen nur wenig Verkehr und selbst die Parkplatzsuche in der Gartenstraße gestaltete sich erfreulich einfach.
Nachdem Nora vor drei Jahren von einem Serienmörder in ihrer eigenen Wohnung in Bockenheim überwältigt und verschleppt worden war, hatte sie neben einer Psychotherapie auch einen Tapetenwechsel gebraucht. Jetzt bewohnte sie die Hälfte einer Vierzimmerwohnung in Sachsenhausen: Altbau mit Wohnküche und großem Balkon am Ende der Gartenstraße, in Höhe des Museum Giersch, keine drei Gehminuten vom Mainufer entfernt. Die anderen beiden Zimmer belegte Ceyda Baran, eine türkische Krankenschwester, die in der Uniklinik auf der Intensivstation arbeitete und in Noras Augen die mit Abstand schönste Frau in Frankfurt war. Was Ceyda regelmäßig bestritt, ob aus Koketterie oder Bescheidenheit, hatte Nora noch nicht herausgefunden.
Sie drehte den Schlüssel im Schloss, stieß die Tür einen Spalt breit auf und horchte. Dafür gab es zwei Gründe: Erstens hatte sie sich diese Vorsichtsmaßnahme seit ihrer Entführung angewöhnt. Zweitens brachte Ceyda gelegentlich einen Mann mit nach Hause – seit Nora einmal unversehens im Flur einem nackten Assistenzarzt gegenübergestanden hatte, gab sie Ceydas Eroberungen gern einen kleinen Vorsprung.
Da alles still war, stellte Nora die Aktentasche ab und ging in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen. Kaum hatte sie den Herd eingeschaltet, tauchte Ceyda auf.
Sie trug ein gestreiftes Pyjamaoberteil, das unverkennbar eine ihrer Männerbekanntschaften zurückgelassen hatte, und einen Slip. Vermutlich war sie erst heute Morgen vom Nachtdienst aus der Klinik zurückgekehrt. Ihre schwarze Lockenmähne hing ihr wild ins Gesicht. Nora bewunderte einmal mehr ihre makellose milchkaffeefarbene Haut und die braunen Augen, die verschlafen blinzelten.
Ceyda gähnte herzhaft, dann grinste sie. »Auf dem AB ist ein Anruf für dich«, sagte sie mit ihrer Reibeisenstimme.
»Und was bitte bedeutet dieser Gesichtsausdruck?«
»Wusste gar nicht, dass du einen Verehrer hast.«
Nora zuckte zusammen. Sie hatte keinen ›Verehrer‹, und wenn ein Unbekannter bei ihr zu Hause anrief und Zweideutigkeiten auf dem Anrufbeantworter hinterließ, bedeutete das nichts Gutes. Sie trat auf den Flur hinaus und hörte die Nachricht ab.
»Frau Winter? Hier ist Bruno Albrecht, Sie erinnern sich vielleicht, dass wir uns heute in der JVA Schwalmstadt begegnet sind. Ich wollte Sie fragen …«, das leichte Zögern bewirkte, dass sich Noras
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