Die Voliere (German Edition)
war fest entschlossen, sich die Schreckenmühle zurückzuholen. Daran würde auch die Tatsache nichts ändern, dass bei der Auktion ein anderer den Zuschlag erhalten hatte, weil der Verrechnungsscheck, den Kiefer als Sicherheit vorgelegt hatte, dummerweise nicht gedeckt war. Kiefer legte die blaue Mappe auf die Anrichte, doch dann änderte er seine Meinung und klemmte sich die Unterlagen unter den Arm, während er mit einem Pilotenkoffer voller Akten für die Gemeinderatssitzung das Haus verließ.
»Um eins gibt es Essen!«, tönte Annas Stimme überraschend kräftig aus der Küche, kurz bevor die Haustür ins Schloss fiel.
Ein leises Summen ertönte, als sich das Garagentor hob und den Blick auf Kiefers A8 freigab. Da hatte er schon das Handy am Ohr und Wawerzinek am anderen Ende der Leitung. »Ich möchte, dass du am Freitagabend zur Abwechslung mal nüchtern bleibst.«
»Das wird hart. Die Jungs und ich haben Sitzung im Kalb.«
»Dann trinkt halt Apfelschorle.«
Ungläubiges Wiehern am anderen Ende. »Apfelschorle, der Witz war gut! Daran verdienst du aber nix, Scheff.«
»Ich hol dich Samstagmorgen um halb vier ab. Wenn wir die Fallen aufstellen, bist du besser fit. Falls dir deine Hände lieb sind.«
»Fallen aufstellen. Hört sich gut an.«
Kiefer legte auf und öffnete den Kofferraum. Er schob die schwarze Nylontasche zur Seite, in der sich seine Browning Selbstladebüchse befand, und stellte den Pilotenkoffer daneben. Das Jagdgewehr lag immer im Kofferraum, denn dort war die Waffe wegen der Alarmanlage Kiefers Meinung nach sicherer aufgehoben als in dem Waffenschrank im Keller seines Hauses. Aber natürlich war das nicht der einzige Grund.
Er setzte rückwärts aus der Garage. Während er durchs Hoftor fuhr, fiel sein Blick auf das Müllhäuschen und die Papiertonne, die darin stand. Er hatte die Kiste mit dem Altpapier im Wohnzimmer stehen lassen. Aber das war nun auch egal.
Während er Gas gab, glitten seine Finger über die raue Oberfläche des Schnellhefters. Sein Herz klopfte. Im Rückspiegel sah er in der Ferne das Dach des morschen Aussichtsturms zwischen den Baumkronen hervorlugen. Der Morgennebel waberte um die kahlen Baumstämme am Waldrand, erst auf fünfzehn Metern Höhe befanden sich die ersten unbelaubten Äste. Die Schreckenmühle lag einige Hundert Meter nördlich vom Aussichtsturm, am Ende eines Wirtschaftswegs, der sich im Winter in ein Schlammloch verwandelte und direkt am Turm vorbeiführte.
Die Erinnerung an das Haus seiner Eltern war so lebendig, dass er beinahe den harzigen Duft frisch gesägter Eichenbretter in der Nase hatte.
Der Hof lag zum Greifen nah.
*
Broussier stand etwa drei Meter von seinem Wagen entfernt und strich sich gedankenverloren über den Parteianstecker am Revers. Eine stark geschminkte Blondine redete auf ihn ein, in der Hand ein Mikrofon, und alle paar Sekunden, kurz bevor sie von Broussier weg und frontal in die Kamera sah, setzte sie ein gekünsteltes Lächeln auf.
Nora versuchte, sich unbemerkt hinter dem Kameramann vorbeizudrücken. Doch Broussiers Miene hellte sich auf, als er sie bemerkte.
Wortfetzen wehten zu Nora herüber. »… werden alles in unserer Macht Stehende unternehmen … schwer gestört … Straftäter … Freilassung unbedingt verhindern …«
Wie bitte? War das derselbe Broussier, der vor ein paar Stunden verkündet hatte, die Freilassung sei reine Formsache? Er nickte Nora kaum merklich zu. Die Blondine stellte eine Frage über den weiteren Ablauf des Verfahrens. Und dann hörte Nora auf einmal ihren Namen.
»Unsere Sachverständige Frau Winter, eine renommierte Polizeipsychologin, wird das Gutachten erstellen, das eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für die Freilassung darstellt. Dort drüben kommt sie übrigens gerade.«
Nora hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, was für einen Unsinn Broussier zum Besten gab, denn die Kamera schwenkte abrupt herum und nahm sie voll ins Visier. Unterhalb des Objektivs machte sie das Logo eines Privatsenders aus, das rote Lämpchen signalisierte: on air. Falls Noras Vermutung zutraf, sahen jetzt Millionen Zuschauer ihr Gesicht und brachten es mit der umstrittenen Entlassung von drei Schwerverbrechern in Verbindung.
Die Blondine eilte mit klappernden Absätzen in ihre Richtung. Der Kameramann lief auf sie zu.
Nora stand, wie vom Donner gerührt, auf dem Parkplatz der JVA Schwalmstadt und versuchte, ihrer Überraschung Herr zu werden.
»Frau Winter, wie sind Ihrer
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