Die Voliere (German Edition)
zugelegt hatte, als sie ihren Vater auf eine Geschäftsreise begleitet hatte.
Na also, dachte Wilfried, man musste nur die richtigen Leute fragen.
Maningning gab ihrem Arbeitgeber das Handy zurück. »Sie ist halbe Stunde da.«
»In einer halben Stunde«, verbesserte sie Wilfried, dem Maningnings freie Interpretation der deutschen Grammatik ein Gräuel war. Und obwohl sie seit dreißig Jahren Deutsch radebrechte, ohne etwas dazuzulernen, gab er nicht auf. Es stand sogar zu befürchten, dass er Maningnings Trauerrede bei seinem eigenen Begräbnis korrigieren würde.
Fünfundzwanzig Minuten später stürmte Nora die Eingangstreppe zur Villa hinauf. Bevor sie hineinging, sah sie jedoch noch einmal auf den Park hinunter und ließ sich vom Farbenspiel des Herbstes verzaubern: den fließenden Gelb- und Rottönen und ihren Schattierungen, die Bäume und Sträucher wie ein Teppich aus glühender Lava überzogen. Noch ließ die Oktobersonne die Farben in freundlichem Licht erstrahlen. Doch die bevorstehenden Veränderungen kündigten sich bereits an: Bald würden graue, nasse und windige Tage folgen und das Laub würde sich verfärben, von leuchtendem Orange zu schmutzigem Braun.
Ihr Vater und Maningning nötigten Nora, wenigstens noch einen Kaffee zu trinken, bevor sie sich wieder verabschiedete. Also setzte sie sich in die Küche an einen kleinen polierten Holztisch und schlürfte Cappuccino. Auf einem Teller lagen Bethmännchen. Das Marzipankonfekt stammte aus der Konditorei Hollhorst am Römer, von der Noras Vater behauptete, sie sei die einzige, die Bethmännchen herstellen konnte, die auch den Namen verdienten.
»Ich habe dich im Fernsehen gesehen«, sagte Wilfried und sah zu, wie Nora sich ein Stück Konfekt in den Mund schob.
»Das hätte ich gern verhindert.«
»Es könnte Probleme geben, wenn man die drei feinen Herren in die Freiheit entlässt. Dann wird man dir den Schwarzen Peter zuschieben, falls etwas schiefgeht. Die Gutachterin, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat … Das hat Broussier schlau eingefädelt. Kein Wunder, dass der Junge es so weit gebracht hat.«
»Der Junge?«
»Ich kenne seine Eltern. Flüchtig.«
»Was ich nicht verstehe: Nach außen hin gibt er den Hardliner, der die Gefangenen dort lassen will, wo sie sind. In der JVA setzt er mich aber unter Druck, die Sache möglichst schnell über die Bühne zu bringen. Ich hatte fast den Eindruck, als wollte er die drei Männer sofort auf freien Fuß setzen. Was der für einen Aufstand gemacht hat, als ich mir die ganze Sache noch einmal genauer anschauen wollte!«
Winter lächelte milde. »Es liegt ja in seinem Interesse, dass sie freikommen.«
Als Winter die verständnislose Miene seiner Tochter gewahrte, ging er in sein Arbeitszimmer und kehrte mit einer Tageszeitung zurück. Er blätterte darin, bis er gefunden hatte was er suchte:
BROUSSIER MACHT SICHERHEIT ZUM TOPTHEMA
Dr. Alexander Broussier, designierter Innenminister im Falle einer konservativen Mehrheit bei der anstehenden Landtagswahl, strebt mehr Stellen und Mittel für die Polizei an. Aufgrund der verschärften Sicherheitslage müssten die Organe der Exekutive dringend besser ausgestattet werden, erklärte Broussier am Rande einer Konferenz der Innenminister. Für die anstehende Rund-um-die-Uhr-Überwachung von mehr als achtzig Sicherungsverwahrten bundesweit und die Bekämpfung der erhöhten Terrorgefahr stünden nicht einmal annähernd genug Ressourcen zur Verfügung.
»Die Angst der Menschen ist Broussiers stärkster Wahlhelfer. Drei Sicherungsverwahrte, die ihre potenziellen Nachbarn auf die Barrikaden bringen, kommen ihm da gerade recht. Mit denen lässt sich ausgezeichnet Politik machen. Wisst ihr schon, wo ihr die Männer unterbringen werdet?«
Nora hatte keine Ahnung. Es war Aufgabe der Bewährungshelfer, sich um ein Quartier für die Entlassenen zu kümmern. Aber sie hatten oft mehr als fünfzig Klienten gleichzeitig zu betreuen und waren dementsprechend überfordert. Wahrscheinlich würde alles wieder auf eine Hauruck-Aktion hinauslaufen.
»Diesen Heinz Rosen würde ich übrigens besonders scharf im Auge behalten.«
»Rosen ist schwer zuckerkrank, Papa. Und er hat panische Angst vor der Freiheit. Würde mich wundern, wenn der überhaupt jemals seine vier Wände verlässt.«
»Das meine ich nicht.«
»Sondern?«
»Es gab Gerüchte um einen vierten Mann bei der Entführung von Katharina von Kolbach. Einen Komplizen, der nie gefasst wurde.«
»Und du
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