Die Voliere (German Edition)
sich, wie ein Mann, dem die politische Verantwortung offiziell noch nicht übertragen war, im Fernsehen seine Meinung zu einem Thema kundtun durfte, das Sache des Innenministers war.
Der Bewährungshelfer meldete sich zu Wort: »Hier handelt es sich nicht um Gefangene, sondern …«
»Es ist mir völlig egal, wie sie diese Leute nennen«, fuhr ihm Broussier über den Mund. »Sie stellen eine Gefahr für die Sicherheit der hessischen Bevölkerung dar!«
Beifall im Studio. Schröder pflichtete Broussier mit einem Nicken bei.
Der Bewährungshelfer wollte gerade den Sinn einer nach seinem Dafürhalten völlig übertriebenen Dauerüberwachung infrage stellen, als der Moderator die Gesprächsrunde für eine Werbeeinblendung unterbrach.
Auch im Lokal klatschte jemand Beifall.
Nora sah sich bestürzt um, konnte den Claqueur aber nirgends entdecken. Sie drehte den Ton wieder ab und kehrte schweigend zum Tisch zurück. Gideon wartete, bis sie das Wort ergriff.
»Die tun gerade so, als würden die drei den Nächstbesten umbringen, der ihren Weg kreuzt, sobald sie einen Schritt in Freiheit getan haben.«
»Kannst du garantieren, dass sie das nicht tun?«
»Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Aber einen Teil des Geldes für die Rund-um-die-Uhr-Überwachung sollte man lieber in eine vernünftige Verhaltenstherapie stecken.«
»Wenig populär.«
»Weil Boulevardzeitungen und Fernsehen die Bevölkerung aufwiegeln. Die drei haben nicht den Hauch einer Chance, wenn sie rauskommen. Sobald sie irgendwo auftauchen, beginnt der Spießrutenlauf.«
»Dann solltest du vielleicht in deinem Gutachten die Freilassung ablehnen. Das wäre für alle das Beste.«
»Das wäre sogar Rosens Wunsch. Er hat ernsthaft angeboten, für seinen weiteren Aufenthalt in der JVA zu zahlen.« Nora bestellte sich einen Tequila und kippte den Inhalt in einem Zug hinunter.
Gideon sah sie verwundert an.
»Die haben mich bewusst für den Job ausgesucht. Das war kein Zufall.«
»Wie kommst du darauf?«
»Schreyer und Broussier wollten jemanden ohne Erfahrung, dem sie den Schwarzen Peter zuschieben können. Das Erste, was Schreyer von mir wissen wollte, war, was ich von der Resozialisierung halte. Er wusste, dass die Kollegen bei ZÜRS wesentlich weniger liberal eingestellt sind. Die sind genauso vorsichtig wie Schröder. Man stelle sich vor, die hätten das Gutachten geschrieben. Oder gar Schröder selbst.«
»Dieser Professor Schröder arbeitet schon seit Jahren nicht mehr als Gerichtssachverständiger.«
»Woher weißt du das?« Diesmal war es Nora, die sich wunderte.
»In der MK2 haben sie letzten Sommer, als es etwas ruhiger zuging, mal wieder einen Blick in die Akte seiner Frau geworfen. Schröder war wohl nicht immer so ein harter Knochen. Allem Anschein nach ist einer von den wenigen Jungs, die auf seine Empfehlung hin zwecks Resozialisierung entlassen wurden, in sein Haus eingedrungen und hat seine Frau umgebracht, während sich der Professor auf Dienstreise befand. Nachdem er sie – na ja, das muss man ja hier nicht näher erläutern. Seitdem gilt der Professor als befangen und übernimmt keine Gutachten mehr.«
Noras Herz klopfte zum Zerspringen. Das erklärte einige Facetten von Schröders Verhalten.
»Und warum weiß ich nichts davon?«
»Weil ich Teamleiter war und das Thema nur kurz in einer Teamleiterbesprechung auf den Tisch kam.«
Nora bestellte einen weiteren Tequila.
Als er kam, beugte sich Gideon vor und sagte: »Noch einen solltest du lieber nicht trinken. Sonst geht’s dir morgen früh ziemlich dreckig.«
Nora leerte den Schnaps auf einen Zug und fühlte sich danach mutig genug. Sie holte tief Luft.
»Ich … habe da jemanden kennengelernt.«
Irrte sie sich oder zuckte Gideon kaum merklich zusammen?
Er strich sich durchs Haar. »Und warum erzählst du mir das?«
»Ich dachte, es interessiert dich.«
Gideon sah auf die Uhr und räusperte sich. »Es wird Zeit. Ich muss los.«
»Gitte? Was würdest du an meiner Stelle tun?«
»Heirate ihn und kriegt Kinder. Meinen Segen habt ihr.«
»Das meinte ich nicht.«
Er seufzte. »Wenn du auf das Gutachten anspielst: Lass dich krankschreiben. Ich habe den Eindruck, dass du wieder mal viel zu tief in der Sache drinsteckst. Das typische Nora-Winter-Syndrom.«
Gitte legte einen Fünfeuroschein auf den Tisch. »Kannst du für mich mitbezahlen? Ich muss dringend weg.«
Bevor Nora recht wusste, wie ihr geschah, war ihr Exkollege auf und davon. Und sie saß
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