Die Voliere (German Edition)
Mithäftling hat er ebenfalls erschlagen.«
»Rosen behauptet, das sei Notwehr gewesen.«
»Frau Winter, Ihr Mitgefühl in Ehren, aber dieser Mann ist psychisch schwer gestört, er hat fünf Menschen auf dem Gewissen. Wollen Sie die Verantwortung übernehmen, wenn Rosen am Tag nach seiner Entlassung auf einen Spielplatz geht und einem Kind den Kopf abreißt?«
Nora machte sich eine weitere Notiz.
»Keine Therapieangebote angenommen. Keine Lockerungen, kein Freigang. Geht immerhin einer geregelten Arbeit in der Anstaltsküche nach. Tut mir leid, aber dieser Mann ist in meinen Augen kein Kandidat für die Freiheit.«
»Und Tibursky?«
»Ein Opfer der aufkeimenden Hysterie, als der damalige Bundeskanzler den verschärften Umgang mit Sexualstraftätern forderte. Normalerweise hätte man so jemanden freigelassen, aber damals wurden alle Sicherungsverwahrten über einen Kamm geschoren. Dem gönne ich die Freiheit.«
Dass jemand wie Tibursky, ein Betrüger, der noch nicht einmal ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte, überhaupt in der Sicherungsverwahrung hatte landen können, gehörte für Nora zu den großen Kuriositäten des Justizbetriebs.
Aber so waren die Regeln: Wer wegen bestimmter schwerer Straftaten bereits zwei Mal im Gefängnis saß, für den konnte Sicherungsverwahrung angeordnet werden. Sogar wenn seine Opfer keinen körperlichen Schaden davontrugen.
»Auch«, fuhr Schröder fort, »wenn für mich völlig klar ist, dass Tibursky drei Monate später eine weitere verliebte Rentnerin um ihre Ersparnisse gebracht haben und zum wievielten Male auch immer wegen Veruntreuung vor einem Richter stehen wird.«
Beim Gedanken an Tibursky, der in seinem hessischen Singsang einer rüstigen Seniorin Liebesschwüre ins Ohr hauchte, musste Nora lachen.
Schröder stand auf und ging an Nora vorbei zur Tür, das leere Glas in der Hand. Er strömte einen scharfen Duft nach Wacholderbeeren aus. Also doch kein Mineralwasser.
»Sie sind viel hübscher, wenn Sie lachen, Frau Kollegin. Ich hole mir noch etwas zu trinken. Noch einen Kaffee? Oder diesmal etwas … Härteres?«
Machte er sie etwa an, dieser stockkonservative alte Mann in seiner lächerlichen Golfkluft?
Nora lehnte ab. Nachdem Schröder mit einem weiteren Gin Tonic zurückgekehrt war, rollte er seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch hervor und setzte sich ihr direkt gegenüber. Sich vorbeugend, bedachte er Nora mit einem alkoholisierten Blick.
»Auch wenn viele Leute Heiratsschwindel für ein Kavaliersdelikt halten: Tibursky ist ein astreiner Psychopath. Er hat kein Mitleid mit seinen Opfern, kein Schuldbewusstsein, auch wenn er die Damen immerhin nicht ihres Lebens, sondern nur ihres Vermögens beraubt. Gibt es eigentlich auch einen Herrn Winter?«
Der Themenwechsel erfolgte so abrupt, dass Nora einen Moment brauchte, um die Frage zu begreifen.
»Den gibt es: Wilfried Winter. Zeitungsverleger.«
»Ach? Der Wilfried Winter? Sie mögen also ältere Männer.«
Jetzt fiel Nora auf, dass Schröder, während er in der Küche die Getränke geholt hatte, die obersten beiden Hemdknöpfe geöffnet hatte. Unter seinem faltigen Hals blitzte ein Goldkreuz.
»Ein älterer Mann kann einer jungen Frau sehr viel … bieten«, hauchte Schröder.
Nora sah fassungslos zu, wie der Herr Professor eine Hand auf ihre Stuhllehne legte. Der Wacholdergeruch wurde stärker. Bevor Schröder zudringlich werden konnte, schnellte sie hoch und schob seine Hand beiseite. Sie raffte ihre Sachen zusammen und stürmte aus dem Zimmer.
Schröders Dobermänner knurrten und ließen die Muskeln spielen.
Nora drehte sich vor dem Büro zu ihrem Gastgeber um. »Es laufen viel mehr Psychopathen unerkannt frei herum, als man meint.«
Schröder blieb mit offenem Mund zurück. Offensichtlich hatte er noch nie jemanden getroffen, der seinem Charme widerstehen konnte.
Als sie Richtung Haustür lief, sprangen die Hunde auf. Ihr Knurren wurde lauter.
»Aus!«, fuhr Nora die Dobermänner an, die erschrocken zurückwichen.
Und so verließ Nora Schröders Haus: kopfschüttelnd und fassungslos. »Dieser alte Mistkerl«, murmelte sie zornig, während das Tor scheppernd hinter ihr ins Schloss fiel.
Samstag, 19. Oktober
Ceyda Baran saß auf dem Balkon in der Gartenstraße und grinste übers ganze Gesicht. »Jetzt ruf ihn endlich zurück, deinen Pferdedoktor. Bevor er es sich anders überlegt.«
Der Balkon ging auf einen Hinterhof hinaus, wie bei den umliegenden Häusern, und an einem sonnigen
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